Ich freue mich riesig über das, was jetzt kommt: Ein Gastartikel von Weltenbummlerin und DJ Melek Sita! Auf Cleographie ging es schon oft um das Thema Mutterschaft und viele Mütter bzw. Elternteile kamen zu Wort. Aber Melek bringt eine neue Perspektive. Die Sichtweise einer Frau, die ihr Leben in vollen Zügen genießt, während die Zeit vergeht. Um sich dann in den stillen Momenten zu fragen, wo sie geblieben ist – die Zeit und ihre eigene Gelegenheit, Mutter zu werden.
Ich renne. Ich renne in dieser schnelllebigen Welt meiner Idealvorstellung von Glück hinterher.
Ich renne morgens, ich renne abends und überhaupt sprinte ich vom Sport nach Hause und wieder zur Arbeit. Zerteile mich zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und dem bisschen Individualismus, das ich zu pflegen versuche. Ich bin erschöpft. Und müde. Warum komme ich nicht an?
Individualismus. Ist es überhaupt eine gute Idee, ein Individuum zu sein?
Der deutsche Duden deutet das Wort wie folgt:
Individuum:
„Mensch als Einzelwesen [in seiner jeweiligen Besonderheit]
Gebrauch: bildungssprachlich.”
Wow, das klingt ja gut! Aber gleich danach:
„Das Individuum und die Gesellschaft
„Mensch von zweifelhaftem Charakter; in irgendeiner Hinsicht negativ eingeschätzte Person
Gebrauch: oft abwertend”
Abwertend – so fühlt es sich tatsächlich an.
Ich bin jetzt 43 Jahre alt. Wie will ich mein rasant fortschreitendes Leben leben? Will ich jetzt noch Kinder bekommen oder nicht? Und wie soll das überhaupt gehen ohne einen passenden Partner? Finde ich überhaupt DEN passenden Partner?!
Woher ich kam und wohin ich ging
Vor 13 Jahren hatte ich einen Partner. Ich war Anfang 30, als ich eines Morgens aufwachte und in eine Art Panik verfiel. Dabei war doch alles gut…oder?! Ich hatte einen guten Job. Eine funktionierende Beziehung. Mein Freund und ich schmiedeten Heiratspläne mit Haus auf dem Land und konstruierten den scheinbar perfekten Zeitpunkt, eine Familie zu gründen. Wir hatten sogar schon einen Hund!
Hypothetisch idyllisch also. Ich hatte einen Mann gefunden, der mich, diese wilde Stute, zähmen konnte. An diesem besagten Morgen jedoch folgte ich meinem Impuls, diese Beziehung zu beenden. Diese Entscheidung sollte mir noch viele Jahre lang ein unfreiwilliges Singleleben bescheren. Ich trennte mich in wirklich radikaler Form. Von heute auf morgen, von jetzt auf gleich. Ich warf alles hin.
Ich muss wahrscheinlich nicht erklären, dass meine impulsive Entscheidung in meinem näheren Umfeld auf völliges Unverständnis gestoßen ist. Dazu kommt noch, dass ich die erstgeborene Tochter einer Einwanderungsfamilie aus der Türkei bin. Meine Familie hatte seit meiner Jugend eine große Erwartungshaltung an mich. Alle glotzen mich an mit ihren großen Augen und befragten den Kaffeesatz, wann ich denn endlich heiraten würde.
Ich hatte mich im Übrigen nicht nur getrennt, sondern auch meinen gut bezahlten Job gekündigt. Mir wurde etwas klar: Ich wollte nicht mehr Teil dieses schematischen Systems sein! Jahrelang hatte ich versucht, jeden Tag 8,5 Stunden an einem Tisch in einem staubigen Büro zu sitzen, in einen Flimmerkasten zu glotzen und mit mindersinnvollen Dingen mein Geld zu verdienen. In meinen orientalischen Kreisen klopfte man sich vor Entsetzen auf die Knie und warf sich dramatisch auf den Boden angesichts der vermeintlichen Schande, die ich brachte. Ich war keine Ärztin oder Anwältin geworden. Es gab auch keine Angeber-Hochzeitsfeier, um meinen Vater zu ehren. Hatte ich versagt?
Meine Feststellung heute: Druck erzeugt bei mir in vielen Fällen eine Antivalenz. Ich tat mein ganzes Leben genau das rebellische Gegenteil von dem, was man sich von mir erhoffte. Ich wollte mich neu erfinden und ging deshalb auf Reisen. Brasilien, Kroatien, Kolumbien, Ecuador… Je ferner das Land, desto größer meine Ignoranz gegenüber dem, was ich zu Hause in Köln hinterlassen hatte: Ein emotional geladenes Minenfeld.
Meine Fertigkeiten als DJane halfen mir dabei, die traumhaftesten Beach Clubs dieser Welt zu bespielen. Ich trank das Leben aus Kübeln und tat genau das, was ich an jenem impulsgesteuerten Morgen wollte: Im Jetzt leben und meinem Bauchgefühl folgen.
Ich heiratete Länder, anstatt Männer.
Die Aussicht auf meinen Reisen war immer grenzenlos schön, die Freiheit so überwältigend, dass es manchmal geschmerzt hat. Oft fühlte ich mich unfassbar allein. Einsamkeit und Glück begleiteten mich ständig.
Einmal schwamm ich im karibischen Meer zwischen Kolumbien und Venezuela und machte Halt auf einer Miniinsel, auf der es nichts anderes gab als eine Cocktailbar unter Palmen. Da lag ich dann, braungebrannt im weißen Sandstrand, und schaute auf die schönsten Meeresfarben, die ich je gesehen hatte. Ich war ein winziger, glücklicher Punkt in dieser malerischen Szenerie.
Dennoch kam es mir so vor, als würde meine alte Konditionierung aus dem türkisen Meer in Form eines riesigen, gehobenen Zeigefingers aufsteigen. Sie erinnerte mich nachdrücklich, dass ich mir als Frau in den Dreißigern nicht einfach rausnehmen könnte, so ein unbeschwertes Leben zu leben. Und dann verschwand sie wieder im Meer. Die Ungewissheit über meine Zukunft zerfraß mich schleichend. Doch ich war gut darin, dieses Gefühl zu verdrängen.
Jetzt bin ich 43 – Wenn die Erkenntnis reinkickt
So vergingen die Jahre. Ich wurde 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42 baaammmm 43! “Hier bin ich! Du kannst mich nicht mehr übersehen”, brüllte mich die 43 an. Die Zahl, die mir einen Stock ins fahrende Rad warf und mich unkontrolliert durch die Luft fliegen ließ. Die schmerzhafte Landung erfolgte, als ich eines Tages die Praxis meines Frauenarztes verließ, seine Worte im Ohr: „Leichter wird es nicht mit dem Kinderkriegen.“
43 – Wann ist das passiert? Wo sind die letzten Jahre hin verschwunden? Wisst ihr, was das Schmerzhafteste an dieser Art zu leben ist? An diesem dauerhaften Verdrängen der Zukunftsangst und dem intensiven Genießen des Hier und Jetzt? Die Bilanz. Ich habe zwar 26 Stempel in meinem Reisepass, sprich ich bin durch 26 Länder gereist. Doch das Resultat kann ich nicht zeigen. Ich kann nichts Anfassbares vorweisen. Weder Kinder noch eine eigene Immobilie. Das sind doch die Dinge, an denen man heute gemessen wird, oder? Was oder wen hast Du geschaffen? Was besitzt Du?
Ich besitze nur einen erweiterten Horizont, unsichtbar in meinem Kopf. Aber keiner kommt und fragt: “Hey, wo hast Du aus Versehen frittierte Schweinehaut gegessen, weil Du dachtest, es wären pikante Kartoffelchips? Und wie hast Du als Hobbymoslem reagiert, als Dich dabei die mexikanische Gastfamilie voller Stolz angeguckt hat?” Eigens frittierte Schweinehaut gilt bei ihnen schließlich als wertvolle Delikatesse!
Also habe ich kaum jemanden von meinen Abenteuern erzählt, als ich wieder zu Hause war. Ich verstummte allmählich. Das echte Leben peitschte mir wieder ins Gesicht. Köln war jünger geworden, meine Freunde waren älter geworden, Dating hatte sich total verändert. Man datete jetzt online, keiner schaute dem anderen mehr in die Augen. Zudem gab es im echten Leben kaum mehr Männer, die interessant für mich waren, weil ja alle ihre Familien bereits gegründet hatten. Autsch. Ich fühlte mich einsam und ging lange Zeit wie durch einen fiesen, dunklen Tunnel in der Hoffnung, endlich bald ein Licht zu sehen.
Am liebsten wäre ich wieder in das nächste Flugzeug gestiegen.
In meinem Umfeld poppt seit Jahren der Nachwuchs auf wie Maiskörner in der Mikrowelle. Ich bin hin- und hergerissen. Auf der einen Seite will ich auch so bedingungslos geliebt und gebraucht werden, wie es nur ein eigenes Kind tut. Auf der anderen Seite kann ich mir besseres vorstellen, als viele Jahre auf meinen Schlaf zu verzichten und aufgrund eines gesenkten Beckenbodens im postnatalen Yoga lauthals Vaginaluft zu verlieren.
Ich sehe es ja, keine Frau braucht mir etwas vorzumachen: Die Entscheidung, ein Kind auf die Welt zu bringen, birgt hässliche Geheimnisse. Ich spreche hier von der höchst brutalen Geburt, dem harten Milchstau, von nicht vorhandenen Kitaplätzen und selbst wenn man einen bekommt, hat man als Bonus ein bis zu 4 Jahre lang durchgehend verrotztes Kind. Aber die Frage des Kinderwunsches ist bei jeder Frau essentiell. Eine Entscheidung gegen das Muttersein erzeugt bei mir ein furchteinflößendes Gefühl der Ungewissheit. Die Frage nach der späteren Reue ist allgegenwärtig.
Ich versuche auch heute mein Leben so zu gestalten, dass es immer mit tollen Abenteuern gefüllt ist. Jedoch macht mein Eierstock jeden Tag tick tack, fick, f*ck… Let’s face it: Ich habe große Angst davor, irgendwann in einem Altersheim zu sitzen und zu vereinsamen. Und vielleicht irgendwann Gott gegenüberzustehen und ihr erklären zu müssen, warum ich verdammt noch mal das größte Wunder der Natur – neues Leben zu erschaffen – nicht genutzt habe. Das Mutterglück, die bedingungslose Liebe und die kleinen Babyaugen, die eine Mutter so süß angucken. Wenn ich das bei anderen beobachte, stimmt es mich traurig. Werde ich das jemals selbst erfahren?
Woher kommt und wohin führt mich mein Kinderwunsch?
Die Frage ist jedoch: Will ich ein Kind, weil ich Mutter werden will oder weil ich gewisse gesellschaftliche Normen erfüllen will? Weil ich mich abseits dieser Normen lebend manchmal unvollkommen fühle? Kann mir ein Kind überhaupt die Angst vor dem Älterwerden und der Vereinsamung nehmen? Bin ich bereit, mein unverbindliches Leben für die Hoffnung aufzugeben, nicht allein zu sterben? Hätte ich damals gewusst, dass meine impulsive Entscheidung, mein Leben hinter mir zu lassen, mir eine lange Phase des Alleinseins bescheren würde, hätte ich es mir vielleicht nochmal anders überlegt.
Mit 43 Jahren ist es medizinisch durchaus noch möglich Kinder zu bekommen. Aber die Parameter stimmen aktuell bei mir nicht. Ich kann mir das nur gemeinsam mit einem festen Partner und in einer romantischen Beziehung vorstellen. Die orientalische Gehirnwäsche meiner Familie ist in mir tief verankert, sodass eine künstliche Befruchtung oder sich unverbindlich schwängern zu lassen, für mich nicht in Frage kommen. Noch mehr Schande kann ich der älteren Generation nicht zumuten, sie würden an Schnappatmung ersticken.
Mit Humor kann man die Tatsache anerkennen, dass sie versuchen, mich mit aller Gewalt zu verkuppeln. Mein Vater ist stets auf der Suche nach einem passenden Anwärter, zuletzt angeblich ein Manager eines Luxushotels in einer wohlhabenden Gegend der Türkei. Er wäre sehr vermögend, denn er habe ja einen Traktor und das dazugehörige Land mit grasendem Vieh. Ich habe recherchiert. Der Teil mit dem Manager und dem Luxushotel stimmt nicht. Aber dürfen überhaupt noch Ansprüche gestellt werden?
Früher hieß es: “Bring mir bloß keinen Deutschen nach Hause!” Heute ist alles erlaubt, Hauptsache die Alte – also ich – heiratet bald. Meine Eltern wünschen sich nichts sehnlicher als eine Hochzeit und Kinder für mich. Sie gehen nämlich davon aus, dass ich nur dann glücklich bin. Aber bin ich denn überhaupt unglücklich, nur weil ich anders lebe als sie? Ich sammle weiterhin Abenteuer und tue das, was ich am meisten liebe: Reisen und mich mit inspirierenden Menschen und Erlebnissen verbinden. Diese Selbstbestimmung lässt mich berauscht auf einer langen Welle der Entzückung reiten, die – wie so alles im Leben – aber irgendwann auch bricht.
Ganz tief, tief in mir habe ich einen sehnlichen Kinderwunsch. Aber, und ich traue mich kaum, es laut auszusprechen: Die Tendenz geht wohl dahin, dass ich mich langsam von dieser Vorstellung verabschieden muss. Und just in diesem Moment, als ich das aufschreibe, manifestiert sich wieder die Frage nach der späteren Reue wie eine hässliche schwarze Wolke über meinem sensiblen Wesen und lässt ihren sauren Regen ab. Manchmal schaffe ich es, den Regenschirm zu öffnen. Manchmal aber lasse ich mich bewusst berieseln.
In ruhigen Momenten, wenn ich dann in meiner hippen Wohnung im angesagtesten Stadtteil Kölns aus dem Fenster schaue, so ganz allein, sitzt die Einsamkeit wie ein hungriger Hund vor dem Napf und frisst mich gierig auf. Die horizontale Freiheit jedoch, die ich vor dem Fenster sehen kann, hält mich an ihrer langen Leine.
Ein herzliches Dankeschön, liebe Melek, für deine offenen, bildreichen und verletzlichen Worte!
Mehr dieser Worte findet ihr auf Meleks Website Was uns bewegt – Geschichten aus dem Leben und auf ihrem Insta Account @dj.sita.melek. Und wenn ihr gerne einmal eine Kostprobe ihrer Musik anhören wollt, dann schaut mal hier auf Soundcloud.
Melek gibt euch noch einen Song auf den Weg, der sie inspiriert. Viel Spaß!