Letztens stand ich in meinem Gym auf der Cardio-Maschine und stellte das Programm ein, das ich mir für die nächste Dreiviertelstunde antun wollte. Brav beantwortete ich alle Fragen zu meinem Alter, meinem Gewicht und der gewünschten Trainingsdauer etc. Erst nach ca. 5 Minuten im Training fiel mir auf, dass ich das bereits voreingestellte Alter (30) gar nicht korrigiert hatte. Dabei bin ich – und das auch noch für einige Zeit – erst 29 Jahre alt.
Dass die 30, die große Drei, aber dieses Jahr an meine Tür klopft, nimmt schon weit im Voraus Einfluss auf mich. Ich identifiziere mich schon so extrem intensiv mit diesem Alter, dass mir gar nicht auffällt, dass ich noch gar nicht 30 bin. Ich beobachte mich immer wieder dabei, wie ich den Satz sage: „Eigentlich fühle ich mich schon seit Jahren wie über 30.“
Ich sage das mit einer gewissen Müdigkeit in der Stimme, aber auch mit Ruhe und Unaufgeregtheit. Kein anderer Satz beschreibt den Zustand meines Innenlebens so allumfassend. Mika und Mia vom nicen Podcast „Sodaklub“ sprechen in der Folge „No Regrets“ davon, dass sich ihre Zwanziger für sie ewig lange angefühlt hätten. Dass die Zeit in diesem Jahrzehnt des Lebens subjektiv (oder im Rückblick?) viel langsamer vergeht als in den Dreißigern.
Es heißt laut Zeitempfindungsparadox, dass Episoden, in denen viel passiert, währenddessen als kurzweilig und im Nachhinein als lange Phase wahrgenommen werden. Allein aufgrund der Funktionsweise des Gehirns, das Ereignisanker braucht, um Zeit zu messen und reine Zustände im Nachgang nur wie zusammengefasst erinnern kann. Heißt das für mich, dass in meinen Zwanzigern so viel los war, dass ich denke, diese zehn Jahre müssten doch schon längst vorbei gegangen sein?
Habe ich so viel erlebt, so viele Erfahrungen gemacht, dass ich mich nach einer Bremse sehne? Einem Alter, in dem ich erstmal einen ZuSTAND leben und embracen kann? Ist das überhaupt eine realistische Vorstellung der Dreißiger? Wenn ich mir ansehe, wie viele Leute in dieser Periode Kinder bekommen, dann lautet die Antwort durchschnittlich wahrscheinlich: Nein.
Mit 30 bin ich endlich keine 20 mehr
Trotzdem spüre ich schon fast eine Sehnsucht nach dem älter werden. Das war bei mir wahrscheinlich zum letzten Mal mit 17 der Fall. Die unendlichen Möglichkeiten des Schulabschlusses und der Volljährigkeit herbeisehnend, konnte ich meinen 18. Geburtstag damals kaum erwarten. Seitdem habe ich kein excitement mehr vor einem Geburtstag verspürt – bis jetzt. „Endlich“, denke ich, „endlich komme ich auf dem Ausweis in dem Alter an, in das ich emotional und kognitiv schon so viel früher hineingewachsen bin.“
Und nein, ich habe (bisher) keine Angst vor dem Verfall (lol). Auch wenn ich mit 30 dann offiziell zu alt für das Anforderungsprofil der meisten „Sugar Daddy sucht Sugar Babe“-Plattformen bin und meine Daseinsberechtigung im Patriarchat nur noch durch ein schnellstmögliches Kinderkriegen aufrechterhalten kann. TROTZDEM macht mir die große Drei keine Sorgen.
Erstens ist 30 nicht gleich alt, sondern nur gleich älter. Und zweitens, wann hat das Älterwerden aufgehört cool zu sein? Wirklich schon mit 18? Ich brauche auch kein „Dreißig ist das neue Zwanzig“ auf einer flippigen Geburtstagskarte. Ich möchte stattdessen, dass die Energie und die Erkenntnisse, die mich meine Zwanziger gekostet und um die sie mich bereichert haben, nicht negiert werden.
Ich bin mit 30 keine verkappte 20-jährige mit mehr Geld und einer eigenen Wohnung in einer größeren Großstadt. Ich bin anders als vor zehn Jahren, weil ich mich in dieser Zeit an allen Ecken geformt habe und an allen Kanten geschliffen worden bin. Diese Tatsache kann ich jetzt positiv, negativ oder gemischt bewerten. Aber ich kann sie nicht abstreiten und sollte sie auch nicht mit einem „neue 20“-Trinkspruch ignorieren. Sonst war doch die ganze Aufregung umsonst?
Außerdem kann ich spüren, dass ich mich verändert habe. Sonst würde ich doch nicht schon jenseits der Jahrzehnt-Grenze ungeduldig auf mich selbst warten. Genervt auf die Jahresuhr blickend, Augen rollend, weil die junge Cleo nicht so schnell so alt geworden ist, wie sie sich fühlt. Außerdem gibt es genügend äußere Anzeichen, die mir deutlich zeigen, dass ich gewachsen bin. Nämlich die Dinge, aus denen ich herausgewachsen bin. Ob ich das wollte oder nicht.
Kleidung muss mir passen, nicht ich in Kleidung
Eines dieser Dinge ist meine Partnerschaft mit dem Mann, in den ich mich mit 20 verliebte. Er beendete sie vor nicht allzu langer Zeit. Ich kann diese Partnerschaft ohne Übertreibung als die Beziehung meiner Zwanziger bezeichnen. Kaum etwas hat mich zwischenmenschlich mehr geprägt als diese Langzeitbeziehung, die so viele Gesichter hatte. Sie war monogam und polyamor, sie war Fernbeziehung und langjährig geteiltes Heim, sie war aufregend-kribbelndes Neuland genauso wie haltgebendes Hintergrundrauschen – alles zu seiner eigenen Zeit.
Die Trennung fühlt sich für mich nun an, als würde ich mir endlich eingestehen, dass ich aus meinem Lieblingskleid herausgewachsen bin. Das Kleidungsstück, dass mich mit Anfang 20 fand und mir lange ausnehmend gut stand, bis es über die Jahre an immer mehr Stellen zu eng wurde. Bis es im Spiegel mehr Nostalgie hervorrief als ein wahrhaftiges Gefallen auszulösen. Und nein, ich konnte mich nicht trennen, auch wenn ich im Nachhinein deutlich sehen kann, wo mir das Kleid zu spack saß.
Es fällt mir nicht leicht zu akzeptieren, dass ich heute eine Nummer größer zu brauchen scheine. Dass groß zu werden auch heißt, mehr Raum einzunehmen, wenn man sich nicht klein halten will. Und welche junge Frau ist zunächst nicht darauf geprägt worden, dass Zunehmen etwas Schlechtes sei? Ich muss aber jetzt lernen, dass mehr von mir einfach mehr von mir ist. Weder gut noch schlecht, sondern vor allem ich.
Bisher war meine Erwartung diese: Mit 30 habe ich es endlich verdient, dass man mich ernst nimmt, mir Raum gibt und mich groß sein lässt. Dass mir aber niemand allein aufgrund meines Alters Platz einräumen wird, wird mir jetzt sehr deutlich. Aber wichtig ist jetzt vor allem eins für mich: Ich muss mir ungeachtet meines Alters erlauben, mich selbst ernst zu nehmen. Ich muss mir selbst erlauben, den Raum zu erkunden und zu er-füllen, den ich brauche. Für mich.