Neulich fand ich mich im Abendkurs “Bondage für Anfänger*innen” in einer bemerkenswerten Unterhaltung wieder. Bemerkenswert nicht etwa wegen des außergewöhnlichen Themas, sondern wegen ihres Deja Vu-Charakters. Gefühlt habe ich dieses Gespräch mit den unterschiedlichsten Menschen mehr oder weniger wortgleich schon einmal geführt.
Außergewöhnlich waren nur die Umstände: Ich saß auf flauschigem Teppichboden neben einer mir fremden Dame, die mich nach kürzester Zeit zu meiner Familienplanung befragte. Und ich, an Armen und Beinen gefesselt, konnte nicht fliehen. Zum Ende unseres kurzen Austauschs fühlte sie sich zu einem richtigen Klassiker unter den Ratschlägen hingerissen: “Kinder? Nicht lange überlegen, am besten einfach machen!” Darauf lachte sie laut.
Wenn ich diesen Satz höre, denke ich immer: “Okay. Danke für nichts.” Ich fühle mich einfach nicht ernst genommen, wenn auf meine Unsicherheit mit der Abmoderation der Unterhaltung reagiert wird. Man mag es kaum glauben, aber ein “mach dir nicht so viele Gedanken” beruhigt mich nicht, wenn es um große Entscheidungen geht. Im Gegenteil, es alarmiert mich.
Um mir also ein paar Erfahrungsberichte aus der Praxis einzuholen, habe ich das Gespräch mit zwei Frauen gesucht. Beide mussten sich nämlich bereits einmal fragen, ob sie das mit dem Kinderkriegen jetzt einfach machen oder nicht. Denn beide wurden mit Mitte 20 zum ersten Mal schwanger – und zwar ungeplant.
Die Entscheidung für oder gegen das Mutter werden trafen die Frauen, deren Namen für diesen Text geändert wurden, genau gegensätzlich zueinander.
Ria, heute 30 Jahre alt, erzieht ihren nun fast Vierjährigen größtenteils ohne dessen Vater. Während Julia (38) sich für den Abbruch ihrer beiden ungeplanten Schwangerschaften entschieden hat und deshalb ohne Kinder lebt. Ich wollte von beiden wissen, wie sich ihre Entscheidungen von damals heute für sie anfühlen und noch wichtiger, ob sie mir zu ihrer jeweiligen Entscheidung raten würden, falls ich in eine ähnliche Situation komme. Vor allem Rias Antwort auf diese Frage hat mich überrascht.
Laut dem Weltbevölkerungsbericht der vereinten Nationen von 2022 sei jede zweite Schwangerschaft weltweit “unbeabsichtigt”. Und auch wenn die Gründe hierfür größtenteils humanitäre Krisen, sexuelle Gewalt gegen Frauen und generell fehlender Zugang zu Verhütungsmitteln in vielen Teilen der Welt seien, kommt es auch in Deutschlands privilegierteren Bevölkerungsteilen zu ungeplanten Schwangerschaften. Beispielsweise wurden innerhalb der Gruppe von zehn weißen und gut ausgebildeten Müttern, die ich für eine Interviewreihe über Mutterschaft auf meinem Blog gesprochen habe, sogar sieben von zehn Frauen ein Mal in ihrem Leben ungeplant schwanger.
Ria ist eine von ihnen, weshalb ich zuerst von ihr wissen möchte, wieso sie sich trotz ihrer finanziell und partnerschaftlich instabilen Situation dazu entschied, ihr Kind zu bekommen. “Ich hatte einen Kinderwunsch, nur eben später”, sagt sie, und erklärt, dass sie ihre Familie als starkes Hilfsnetzwerk in ihrem Rücken wusste. Das half ihr über ihre Angst vor finanzieller Abhängigkeit und vor der unsicheren Zukunft der Beziehung zum Kindsvater hinweg.
Im Nachhinein ist Ria sich allerdings sicher, dass sie völlig unvorbereitet in die große Überforderung einer praktisch alleinerziehenden Mutter lief. Rational gesehen, sagt sie, habe sie den Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft als maximal ungünstig bewertet und gewusst, dass eine Abtreibung durchaus eine Option gewesen sei. Ihre Entscheidung gegen den Schwangerschaftsabbruch sei eine rein emotionale gewesen. Heute sagt sie: “Für mich war es definitiv die richtige Entscheidung. Auch wenn es Momente gegeben hat, in denen ich dachte, dass ich mir das Leben hätte einfacher machen können.”
Ihre Familie habe keinen Druck auf Ria ausgeübt, das Kind zu bekommen. Stattdessen erfuhr sie viel Verständnis. Zu ihrer Überraschung vertrauten ihre eigene Mutter und Großmutter ihr an, dass sie in der Vergangenheit beide schon einmal eine ungewollte Schwangerschaft abgebrochen hatten. Ein Schock für Ria, die ihre Familie bisher als konservativ eingestellt wahrgenommen hatte. Sie bedauert, dass sie erst selbst in diese Situation geraten musste, damit das Schweigen über die Abtreibungserfahrungen in ihrer Familie gebrochen wurde.
Dabei lassen in Deutschland jährlich Zehntausende einen Schwangerschaftsabbruch durchführen. Laut dem Statistischen Bundesamt hatten im Jahr 2021 über 55 000 ledige Frauen eine Abtreibung. Unter den verheirateten Frauen waren es fast 36 000. Zur ersten Gruppe gehört auch Julia, die 2021 zum zweiten Mal in ihrem Leben eine Schwangerschaft abbrach.
Doch dadurch machte sie sich ihr Leben nicht einfacher, so wie Ria vermutet, denn Julia kämpft auch heute noch immer wieder mit Schuldgefühlen wegen der Leben, die sie nicht entstehen ließ. Gleichzeitig ist sie immer noch davon überzeugt, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben: “Ich brauche keine leiblichen Kinder, um Mitverantwortung für die nächste Generation zu übernehmen. Ich habe Kinder in meinem engen Umfeld, in der Familie und von Freunden, bei denen ich mithelfe. Ich weiß nicht, ob es mich genauso erfüllt, wie es eigene Kinder vielleicht tun würden, aber es macht mich glücklich, dabei zu sein.”
Alleine und außerhalb einer stabilen Partnerschaft für ein Kind zu sorgen, konnte Julia sich wegen ihrer chronischen gesundheitlichen Probleme nicht vorstellen. Trotzdem sie fest hinter ihren Entscheidungen steht, sprach Julia bisher nur mit wenigen Vertrauten über ihre Abtreibungen. Als ihre Mutter über Umwege davon erfuhr, bestärkte sie Julia in ihrer Entscheidung. Eine unerwartete Unterstützung, die ihr zeigte, dass sie sich der Hilfe ihrer nahen Angehörigen unbegründet verweigert hatte. Aber Scham und Sorge vor Verurteilung verhindern auch heute noch, dass Julia offen mit ihren Erfahrungen umgeht.
Ein Motiv begegnet mir in unserer Unterhaltung immer wieder: Beide Frauen bewerten ihre jeweilige Entscheidung stets als “den für sie richtigen Weg”. Während des Gesprächs überlege ich laut, ob diese Einschätzung nicht ein Selbstschutzmechanismus sein könnte. Schließlich müssen sie ja auch mit ihren Entscheidungen leben.
Julia gibt zu, dass sie sich manchmal einsam fühlt und sich dann fragt, wie ihr Leben mit einer eigenen Familie aussähe und Ria berichtet, dass das Leben alleine mit Kind sie immer wieder zwingt, über ihre Grenzen hinauszugehen. Doch auch wenn beide sich mit den Schattenseiten der Wahl, die sie getroffen haben, konfrontiert sehen. Den jeweils anderen Lebensweg wünschen sie sich für sich selbst nicht.
Das bringt mich zu der Frage, was sie mir raten würden, wenn ich jetzt ungeplant schwanger werden würde. Natürlich bin ich ein paar Jahre älter und finanziell unabhängiger als Ria und Julia zum Zeitpunkt ihrer ersten Schwangerschaften. Aber ich lebe allein und weit weg von einer Familie, die mich unterstützen könnte. Außerdem ist mir unklar, ob ich überhaupt einen Kinderwunsch habe.
Julia gibt mir keine direkte Antwort auf meine Frage. Sie meint, diese Entscheidung sei einfach zu persönlich. Was sie mir aber mitgeben möchte, ist, dass ich mir unbedingt emotionale und praktische Hilfe suchen sollte – ganz unabhängig davon, wie ich mich entscheide: “Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass die Entscheidung zu einer Abtreibung eine Entscheidung ist, mit der man gut leben kann. Aber im Rückblick hätte ich mir mehr Unterstützung hinzuziehen sollen, weil ich es beide Male ganz alleine gemacht habe. Die Einsamkeit und das Schweigen haben mich mehr belastet als alles andere.”
So sehr wie Ria in ihrer Mutterrolle aufzugehen scheint, erwarte ich trotz all ihrer Anstrengungen ein flammendes Plädoyer für die Mutterschaft – auch die ungeplante. Deshalb bin ich überrascht, dass sie meine Frage mit einem nachdrücklichen Nein beantwortet. “Wenn du dir nicht sicher bist, ob du Mutter werden möchtest, dann triff die Entscheidung für Mutterschaft nicht aus dem Druck heraus, dass du handeln musst. Du wirst den Willen und Wunsch zur Mutterschaft brauchen, um mit genug Widerstandskraft durch die vielen Herausforderungen zu gehen, die vor allem das Alleinerziehen bedeutet”, lautet ihre Erklärung.
Eine klare Antwort, die mich allerdings wieder zurück an den Anfang meiner Recherche führt: Woher weiß ich, ob ich mir wirklich (keine) Kinder wünsche? Ich nehme mir vor, Eindrücke von Menschen zu erhalten, die sich schon früh in ihrem Leben aktiv für das Kinderkriegen entschieden haben. Mich interessiert, was uns unterscheidet. Und wie wohl die gezielte Suche nach der Person verläuft, mit der man sich den Kinderwunsch erfüllen kann? Mehr hierzu im nächsten Text.