„Findest du mich attraktiv?“, frage ich einen Mann, mit dem ich ab und zu schlafe über Text.
„Ja. Wieso fragst du?“, kommt sofort zurück. Und: „Habe ich Anlass gegeben, dass du das nicht glaubst?“
Hatte er nicht, glaube ich. Aber wirklich gesagt, dass oder was er an mir anziehend findet, hatte er auch noch nie. Menschen haben aus so vielen unterschiedlichen Gründen Sex miteinander, dass Attraktivität dafür nicht immer der Grund sein muss. Sex passiert auch aus Langeweile, Einsamkeit, Druck, Wut oder um sich zu vergewissern, dass man noch gut zu sich sein kann.
Es findet Sex statt, um jemand anderem etwas heimzuzahlen. Oder sich selbst. Um sich abzulenken, meistens von sich selbst. Um sich etwas zu beweisen. Um sich begehrt zu fühlen und liebenswert, daseinsberechtigt. Wenn sich jemand auf diese Weise körperlich mit mir verbinden will, dann muss das doch was aussagen über mich.
Ein Grund für Sex, der mir jetzt erst einfällt, ist der Wunsch nach Reproduktion. Für mich ist das ein Hinweis, dass Menschen nicht mit dem Ziel, Kinder zu machen, auf diese Welt kommen. Für einen großen Teil der Menschheitsgeschichte wussten sie wahrscheinlich nicht einmal, dass Sex zu Nachwuchs führt. Der zeitliche Abstand zwischen Sex und unübersehbaren Anzeichen einer Schwangerschaft oder dem Stattfinden einer Geburt sind groß. Die Entstehung einer Schwangerschaft erscheint oft random, nicht als unausweichliche Folge von Sex. Vielleicht haben Menschen nach der Sesshaftwerdung ihre Nutztiere beobachtet und aufgrund von kürzeren Tragezeiten und eingegrenzten Fruchtbarkeitsphasen ihre Schlüsse gezogen.
Aber über diese ganze Zeit bis ins Heute ist in unserem Körper erst einmal Lust, bevor sich auch in unseren Köpfen Ideen von Familie bemerkbar machen. Deshalb habe ich kein schlechtes Gewissen, die Reproduktion mal für einen Moment zu vergessen. Die Art wird uns schon jemand erhalten, da bin ich mir sicher. Aber dafür braucht es Attraktivität.
Attraktiv sein zu wollen, ist keine Sünde
Wir tun oft so, als wäre der Wunsch, als attraktiv empfunden zu werden, so ein niederes Bedürfnis. So Mädchenkram, beflügelt von der Motivation zum Konsum unterschiedlicher Beauty-Produkte und -Services. Dabei ist der Wunsch, schön zu sein, auch nur die Sehnsucht nach Liebe in einer Gesellschaft, die sich darauf geeinigt hat: Liebe ist der Wunsch zu besitzen. Anfassen zu dürfen, eigene Bedürfnisse unter Zuhilfenahme des Geliebten erfüllen zu können. Geliebt werden wollen ist, gewollt werden wollen. Je höher der Preis für den zu erfüllenden Wunsch, umso besser, beliebter.
Das ist auch rückversichernd, denn Beliebtheit ist messbar (Likes). Heute kann ich auf meine App-Profile zeigen und sagen: du musst mehr in mich investieren, denn ich bin beliebter als das, was du gibst. Da kommen sonst noch ganz andere. Angebote, Menschen. Es gibt Apps, die mir ausrechnen, wie viele Kamele ich wert bin als Partnerin (nicht als Person). Der Wert liegt nicht in meinem Sein an sich, sondern im Servicepotential für andere.
Deswegen finde ich es auch super unlogisch, dass mein hoher Bodycount meinen Kamelpreis drückt. Schließlich bedeutet der, dass ich heute einen deutlich besseren Sex bereitstellen kann als die Jungfrau, die ich mal gewesen sein soll.
Aber vielleicht verstehe ich auch einfach diesen ganzen Marktplatz der Liebe und Anziehung nicht, weil ich eine Frau bin. Frauen haben die Regeln schließlich nicht gemacht. Dann sähen sie sicherlich anders aus. Ob besser, darüber lässt sich streiten, aber definitiv anders. Was sollen wir auch mit Kamelen? Oder „eigenen“ Partnern, die zu einem privaten Haushalt gehören?
Wer weiß, vielleicht wäre das alles gar kein Markplatz mehr, sondern ein Potluck. Jede bringt was Appetitliches mit und alle teilen. Jede probiert nach ihrem eigenen Geschmack. Ein Kompliment hier, eine Frage nach dem Rezept da. Und niemand muss bis zum Ende aufessen, was ihr nicht schmeckt. Das machen dann andere. Weil Geschmack etwas Veränderliches ist, wird keine gezwungen gegen ihren Widerwillen zu essen. Und trotzdem werden alle satt.
Sharing is caring. Liebe in der Gemeinschaft zu finden bekommt da nochmal eine leicht andere Bedeutung. Und die Frage nach meiner Attraktivität, ob ich die mir genauso stellen würde? Oder ob mir das Gemeinschaftsleben täglich eine Antwort darauf gäbe, ungefragt?