Die Sonne – gerade im Begriff unterzugehen – lässt ihre letzten Strahlen auf der Wasseroberfläche zerfasern. Goldene Flecke auf den kleinen Wellen blenden mich, als ich nach unten schaue. Den schwappenden Badesee betrachte und meine nackten Beine kritisch beäuge, die bis kurz unter den Knien in diesem Frühjahr das erste Mal im Wasser stehen. Ich bin ungefähr 13 Jahre alt und werde sehr ungehalten beim Anblick meiner Unterschenkel.
Mein größtes Problem an diesem Anblick sind nicht die alten Fahrradunfallnarben aus der Kindheit. Es sind die goldig schimmernden (zugegeben noch recht flaumigen) Härchen, die im Sonnenuntergang in meinen Augen sehr deutlich zur Geltung kommen. Inakzeptabel finde ich das. Die müssen abrasiert werden oder gehören gewachst. Jedenfalls müssen sie weg. In der Schule bin ich schon von anderen Mädchen zur prüden Gebetsschwester degradiert worden, weil ich auf die Frage, wie ich meine Beine enthaare nicht routiniert mit „Ich rasiere mich nass“ antworten konnte, so wie Sophia. Ich hatte nämlich gar keine Antwort, weil noch keine Strategie meine Beinbehaarung zu beseitigen.
Und das musste sich ändern, ich war jetzt zu alt und zu reif für haarige Unterschenkel (und Achselhaare waren mir noch nicht wirklich gewachsen). Blöd nur, dass mein Vater das nicht so sah und mir nicht erlauben wollte, dass ich mir meinen ersten Rasierer kaufte. Dort, mitten im noch ziemlich kalten, entengrützigen Badesee, beschloss ich, es trotzdem zu tun. Und Kaltwachsstreifen und Enthaarungscreme noch dazu. Mir doch egal, ob die Haare danach wirklich dunkler und härter wiederkommen sollten. Ich würde gar nicht erst zulassen, dass sie die Möglichkeit dazu bekämen. Was wusste mein Vater schon vom Rasieren?!
Behaarung stoppen!
Eine kurze Weile später und ich war mit dem Ergebnis meiner ersten Beinrasur sehr zufrieden. Meine Haut fühlte sich wie erwartet glatt und seidig an. Stoppeln, Rasurbrand, Trockenheit, Nylonschärfe auf 3-Tage-Rückschnitt, Schweißreaktion auf verletzter Schienbeinhaut und Schnitte von schon zu stumpfen Klingen waren mir unbekannt, aber schon vorprogrammiert. Dafür fühlte ich mich sexy, reif, schön und vor allem so richtig weiblich. Als wäre ich vorher mit Haaren nicht wirklich weiblichen Geschlechts gewesen.
Für viele folgende Jahre galt für mich der unausgesprochene, dafür vielfach in Werbung, Film und Fernsehen dokumentierte Kodex: Nicht nur hat ein weibliches Bein nicht haarig zu sein. Es gilt auch nach allen Möglichkeiten zu verdrängen, zu verleugnen und zu verstecken, dass es überhaupt die Fähigkeit dazu hat, Haare sprießen zu lassen. Vom Rest des weiblichen Körpers fange ich hier gar nicht erst an.
Doch, wo die weibliche Genitalbehaarung gerne fetischisiert und gemeinsam mit der Achselbehaarung auch schonmal frisiert, gefärbt, fotografiert und abgefeiert wird (als Stilbruch natürlich), da wird immer noch nur betreten in die Luft geguckt (bloß nicht nach unten!!), wenn es um Haare an Frauenbeinen geht. Warum ist das so? Wo ist der Unterschied zum Achselhaar, das irgendwie auch in Natura noch verrucht und vielleicht sogar französisch-chic wirken kann?
Frage nicht für einen Freund. Dass männlicher Beinbehaarung so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie Behaarung auch tatsächlich bekommen muss (in Zahlen: keine), muss ich nicht extra mit Beispielen belegen. Oder hat schonmal jemand eine an Männer gerichtete Werbung für Rasierklingen gesehen, in der nicht allein Gesichtsbehaarung (und wenn es hoch kommt noch Brustpelz) als Einsatzbereich für das gelobte Produkt vorgestellt wurde? Es werden zwar andere Töne angeschlagen, wenn männlich erscheinende Beine sich erdreisten sich enthaart zu zeigen, aber was den Besitzer*innen jener dann entgegenschlägt, ist Homophobie und Genderstereotypen-Irritation.
Nichts weniger sexy als Pelz?
Im Falle weiblicher Waden ist es vor allem eins: Ekel. Und zwar kein Ekel in Form von homophober Ablehnung, sondern tatsächlich im Sinne reinster, feinster Unattraktivität. Generell assoziiere auch ich sofort alle diese „un“s mit haarigen Frauenbeinen. Unsexy, ungepflegt, unhygienisch, unweiblich. Und ich weiß, ich bin damit nicht allein. Spätestens die Tatsache, dass es eine Strumpfhose mit künstlicher Behaarung gibt, die Frauen laut Hersteller anziehen können, um sexueller Belästigung vorzubeugen und dass die Wirkungsweise dieses Produkts keiner Erklärung bedarf, spricht für mich Bände.
Noch mehr graust es mich, dass man bei der Argumentationskette „haarige Beine sind so eklig/unattraktiv, dass die Frau nicht belästigt wird“ irgendwann unweigerlich bei „nur attraktive Menschen werden sexuell belästigt“ und „er*sie hätte mehr tun können, um Übergriffen vorzubeugen“ landet. Und die Gründe für sexuelle Übergriffe in der Außenwirkung des Opfers zu sehen, ist und bleibt victim blaming at its best.
Auch die online Artikel in Reaktion auf das Produkt und zum Shitstorm, den J-Crew schon 2010 mit einem Fotoshooting ausgelöst haben, bei dem die weiblich gelesenen Models die firmeneigenen Leggings mit Haaroptik zur Schau trugen, singen alle im gleichen Tonfall: Abscheu und höchstens sehr ironische „wem’s gefällt“ Wertungen.
Selbst der offensichtlich künstlichen Beinbehaarung von Frauen wird öffentlich nicht einmal mit Humor begegnet (im ganzen Internet scheint das nur Buzzfeed irgendwie zu schaffen). Da hört der Spaß aber auch wirklich auf, Humor hat Grenzen… Ich meine, „schwarzer Humor“ kann ja auch mal purer Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus sein… Da ist dann nichts zu machen als die Hand vor den Mund zu schlagen und „hat er nicht gesagt“ zu keuchen. Aber absichtliche und öffentliche Entstellung des „schönen Geschlechts“, das geht jetzt aber wirklich zu weit.
Die öffentliche Meinung und die Mode können ja auch weiter ihr Ding machen und abwechselnd die unterschiedlichsten Normalitäten von Körpern abhaten. Könnte mir ja egal sein. Except it isn’t.
Was ist eigentlich mein Problem?
Nein, es hat nicht bis zu verschiedenen Lockdowns gedauert, bis ich mich rasurtechnisch mal ein wenig entspannt und nicht mehr jede Woche die Klinge angesetzt habe. Auch die Stoppel-Phobie habe ich mit Anfang 20 so ziemlich überwunden. Aber mir gar nicht mehr die Beine rasieren, um wahlweise Müll zu vermeiden, meine Haut in Ruhe zu lassen, nicht mehr unbegründet mehr Geld für Enthaarungsprodukte mit weiblicher Zielgruppe zu bezahlen, Zeit für nicht notwendige Schritte der vermeintlichen Körperhygiene einzusparen (you name it)? Bisher bei mir nicht möglich gewesen.
In diesem aktuell drölften Lockdown habe ich mir tatsächlich so lange wie noch nie seit Beginn meiner Enthaarungskarriere die Beine nicht mehr rasiert. Ich kann nicht genau sagen, wie lange, nur dass sie noch nie so lang waren. Und so dunkel. Und in alle Richtungen abstehend. Und ja, natürlich verziehe ich mein Gesicht, während ich diese Worte schreibe.
Wenn ich meine Unterschenkel ansehe, ekel ich mich vor mir selbst. Ich weiß ganz genau, dass es nur Haare sind. Dass sie am Rest meines Körpers entweder unbeachtet oder irgendwie schon okay sind. Ich weiß, dass es eigentlich keine*n außer mich interessiert, ob sie da sind. Und ich bin angewidert von mir selbst – alles zur gleichen Zeit.
In richtig kurzer Hose oder einem Sommerkleid so jetzt auf die Straße gehen? Cringe. Im Park oder der Straßenbahn sitzen, wo mich Fremde so sehen und bewerten könnten? Horror. Auf ein Date mit jemandem gehen, das womöglich in Nacktheit und Nähe gipfelt? Sex mit meinem langjährigen, vertrauten Partner? Gänsehaut, unmöglich, verkrampfte „fass mich bloß nicht an den Beinen an“-Gedanken. Ein entspannter Umgang mit dem natürlicheren Zustand meines Körpers sieht ganz anders aus. Und das macht mich so wütend.
Was ist eigentlich meine Entscheidung?
Wenn mir der ganze Hype um’s Enthaaren, die Ausgaben etc. nicht passen, dann kann ich’s doch einfach sein lassen? Meine persönliche Entscheidung?! Eben nicht! Der psychische Druck und Stress, den ich empfinde, mag tatsächlich theoretisch unbegründet sein. Aber er ist trotzdem da und dadurch für mich sehr, sehr real. Ich fühle mich brain washed. Ich fühle mich dazu gezwungen mich anzupassen und Druck macht mir mein eigener Ekel.
Perfide ist daran, dass Ekel eigentlich eine Schutzreaktion des Körpers ist. Aber meine Beinbehaarung ist weder infektiös, noch unhygienisch, ungesund oder irgendwie sonst medizinisch oder physisch gefährlich für mich. Wovor will meine Psyche mich schützen? Die einzige Bedrohung, die ich sehen kann, ist die Ächtung im sozialen Raum. Die Ablehnung und Ausgrenzung durch die Gruppe und Gesellschaft, in der ich mich bewege. Denn Akzeptanz in der Gruppe ist lebenswichtig für Menschen. Und ich habe irgendwo zwischen Schnullerentwöhnung und erstem Wackelzahn offensichtlich tief verinnerlicht, dass ich mit unrasierten Beinen als Frau nicht akzeptiert werden kann.
Ich habe mir das nicht ausgedacht und diese Abneigung ist auch nicht meine Meinung. Was andere Menschen mit ihrer Körperbehaarung tun oder lassen, ist mir nämlich vollkommen gleichgültig. Ich habe mir dieses Verhalten nicht ausgesucht und mich nicht bewusst für diese Haltung gegenüber meinem Körper entschieden. Mich nervt es wahnsinnig, dass eine kosmetische Handlung, die nicht mehr Tragweite als Nägel lackieren hat, die Macht hat, mich in so ein starkes Unbehagen zu stürzen.
Deshalb reicht’s mir jetzt, ich habe mich für’s Aushalten entschieden. Ich spreche hier nicht vom Aushalten fremder oder öffentlicher Diffamierung im Netz oder in der Straßenbahn. Ich wünschte, ich wäre schon so weit. Nein, ich rede davon, dass ich mich gerade darin übe, mich und den Anblick meiner haarigen Unterschenkel selbst zu ertragen. Mein Verstand hält meine Beinbehaarung aus, beobachtet, wie sie langsam aber sicher gedeiht. Und mein Ego hält meine unfassbar verurteilenden Gedanken aus, hört zu, wie sie hoffentlich bald eingehen. An ihrem eigenen Ekel erstickt.
Noch bin ich nicht so weit, mich mit mir selbst zu versöhnen. Noch flüstere ich mir mit Blick in den Spiegel ein, dass ich mich nie nicht rasieren können werde. Noch spüre ich, wie stark der innere Zwang ist. Ich will mir selbst ja auch gar nicht verbieten, ab und zu seidig glatte Haut zu genießen. Ich will mich nur endlich freiwillig dazu entscheiden können, eben genau wie zu einer Frisur oder zu einem Styling an anderer Stelle.
Mein Trotz ist tatsächlich meine letzte Hoffnung oder fühlt sich zumindest so an. Generell kann ich mehr fühlen durch diese Auseinandersetzung mit mir selbst: Meinen Willen, meine Prägung, meinen Stolz, meine Ängste. Aber auch die Zugluft an den Haaren an meinen Beinen, wenn ich nackig durch die Wohnung laufe. Und wie flauschig sie irgendwann werden, wenn die Phase der Widerborstigkeit überwunden ist.
P.S.: Hier geht’s zu einem super sympathischen Artikel zum selben Thema, in dem andere Fragen aufgeworfen werden, die in denselben Unsicherheiten wurzeln. Ausdrückliche Leseempfehlung für „Let It Grow“ auf dem Blog Mama arbeitet.
Noch nicht genug über weibliche Tabus geschmökert? Hier geht’s zu zwei von den großen „M“s: Menstruation und Masturbation