Wenn dir plötzlich der Anblick von Banalitäten weh tut, weißt du, dass du dich mitten in einem Abschied befindest. Und so ging es mir, als ich vor ein paar Tagen an einer Fußgängerampel wartete.
Auf einmal sprang mir das Straßenschild auf der Mittelinsel ins Auge, das an einem kurzen Pfosten angebracht ist und dem Autoverkehr anzeigt, in welche Spur eingebogen werden soll. Der Pfosten schließt in einem schwarzen, runden Plastikdeckel ab.
Dass man diese Deckel abnehmen und darunter kleine Gegenstände verstecken kann, weiß ich erst seit Kurzem. Nämlich seitdem mir jemand gezeigt hat, dass Geocaching zwar ein nerdiges, aber auch spaßiges Spiel ist. Das ist das Suchen kleiner Gegenstände in der Umgebung, die andere Spielende vorher versteckt und mit Hinweisen versehen haben. Und solche Caches findet man eben manchmal unter diesen Deckeln. Ein kleines, urbanes Geheimnis.
Ganz cool eigentlich. Aber jetzt muss ich beim Anblick von Pfosten mit schwarzen Deckeln die Tränen wegblinzeln. Weil mir vorher nichts so wirklich bewusst machen konnte, dass dieser Mensch, den ich tief in mein Herz geschlossen habe, bald das Land verlässt. Und zwar ohne Rückflugticket.
Vom Verlassen und Zurücklassen
Wir fragen: “Wann habt ihr euch getrennt?” als würden Trennungen an einem einzelnen Tag und zu einem definierbaren Zeitpunkt passieren. Dabei habe ich mich manchmal über Jahre getrennt. Ich meine damit nicht, dass ich mich jahrelang langsam distanziert habe, bis das zur Trennung führte, sondern die Trennung selbst.
Denn manchmal hat es Jahre gebraucht, bis ich das Gefühl hatte, mit keiner Faser meines Seins mehr an der jeweiligen Person, dem Ort oder der Version meines Selbst zu hängen, die ich hinter mir gelassen hatte. Zudem hat es nicht selten auch Jahre gedauert, bis ich überhaupt verstanden habe, dass es einen Abschied gab. Das Leben spült mich manchmal einfach weiter, hin zu anderen Menschen oder Plätzen, ohne dass ich mir bewusst vorgenommen habe, etwas zu verändern.
Das ist mir bisher vor allem beim Verlassen von Orten passiert, die einmal mein Zuhause waren.
Ich vermute, das liegt daran, dass ich Orte immer dann erst hinter mir lasse, wenn ich schon ein neues Ziel vor Augen habe, auf das ich mich zubewegen kann. Die Vorfreude, ein neues Umfeld zu entdecken, mich in ihm auszuprobieren und zu beobachten, wie sich mein Freundeskreis, mein Geschmack oder mein Auskommen dort verändern, übertönt die Einsicht, dass etwas Neues eben auch oft eines Abschieds bedarf.
Man sollte eigentlich meinen, dass es auffällt, wenn man sein Zuhause hinter sich lässt. Ich habe das aber oft einfach nicht kapiert, als es passierte. Ich hatte immer vor, wieder an den Ursprung zurückzugehen; nicht für immer an einem neuen Orten zu bleiben. Was zur Folge hatte, dass ich sogar meine Heimat Köln endgültig verließ, ohne mich aktiv von ihr zu verabschieden. So habe ich erst im Rückblick mit großem Schrecken verstanden, was ich da verloren hatte. Und dass es auch keine Möglichkeit zur Rückkehr mehr gab, weil der Mensch, den ich damals dort – Zuhause – zurückließ, irgendwann weitergezogen war.
Als ich endlich einen ersten Blick in den Rückspiegel warf, wurde mir klar: einen Heimatort machen die Menschen aus, die ihn bewohnen. Und wenn diese Menschen nicht mehr da sind, gibt es auch kein Zurück mehr. Zumindest nicht mehr an den Platz, der dein Zuhause einmal gewesen ist. Dann sind die Türen zu den Orten, an denen so viele Erinnerungen hängen, verschlossen. Die Schlüssel abgegeben und der Name an der Tür ausgetauscht. Oder das gesamte Heim ist einfach nicht mehr existent. So wie das Haus, in dem ich aufgewachsen bin.
In meiner Erinnerung sehe ich die alte Einrichtung bis ins letzte Detail noch vor mir – die holzvertäfelte Küche, die Ledercouchgarnitur, das pastellgrüne Wählscheiben-Telefon. All das fühlt sich immer noch wie Zuhause an und all das ist nicht mehr vorhanden. Dass ich diesen Ort aber nicht dadurch verlieren würde, dass sich die Einrichtung änderte, sondern dass seine Bewohnerin auszog und verstarb, hatte ich nicht kommen sehen. Es hatt keinen Abschied von diesem Zuhause gegeben, weder für mich noch für sie.
Aber dass manche Orte schlicht nicht mehr existieren oder man dort nicht mehr dieselben Menschen wie früher antrifft, sind nicht die einzigen Gründe, wieso man nicht mehr wirklich in alte Heimaten zurückkehren kann. Meistens ist man selbst der Grund dafür. Denn ob es bewusste Entscheidungen sind, sich raus in die Welt zu wagen und andere Orte zu bewohnen oder ob das Leben einen unbewusst weiterträgt, der Effekt ist derselbe – nur du bist nicht mehr dieselbe. Und du hast maßgeblich dazu beigetragen, dass dein Zuhause das Zuhause aus deiner Erinnerung war.
Wenn man verändert versucht zurückzukehren, hilft es auch nicht, wenn die Lieben auf einen gewartet haben. Es ist einfach nicht mehr das Gleiche. Kleine Veränderungen sind noch überbrückbar. Sie lösen nur aus, dass der Schuh kaum merklich an ein paar Stellen drückt. Man trägt ihn weiter aus Vertrauen in die bisherigen Erfahrungen mit ihm.
Aber Große Veränderungen verhindern, dass man ihn überhaupt wieder anziehen kann. Und auch wenn diese Einsicht nicht überraschend klingt, als persönliches Erleben ist sie ein Schock. Ein Abschied, der sich nicht freiwillig anfühlt, weil man sich nicht gegen das Alte entschieden hat, sondern nur für das Neue.
Ich wollte doch nur gleichzeitig gehen und bleiben.
Abschiede bewusst gestalten
Dabei habe ich das Gehen nie bereut. Ich habe mir nur vorgenommen, in Zukunft besser auf meine Abschiede zu achten. Damit ich wenigstens die Großen nicht mehr einfach verpasse. Weil unbewusste Abschiede die Trennung verlängern.
Weil es so viel schwerer ist, das loszulassen, was man nicht mehr in der Hand hat.
Deswegen gehe ich gerade durch die bewussteste Trennung von einem Menschen, die ich mir je vorstellen konnte. Es gibt ein Datum für seinen Abflug, einen Ozean, der uns trennen wird und dadurch eine enorme Klarheit für unser Ende. Natürlich wissen wir, dass wir Kontakt halten können. Aber noch nie war staying in touch einfacher und überfordernder zugleich. Natürlich wissen wir auch, dass er nicht mehr derselbe sein wird, wenn wir uns wiedersehen. Weil er weitergezogen sein wird und ich hoffentlich auch.
Was bitter und kühl klingen mag, ist mein Weg aus vorherigen Abschieden zu lernen, anstatt zu erwarten, dass alles so bleibt, wie es war. Den Versuch zu wagen, anstehende Veränderungen anzunehmen, anstatt verzweifelt gegen sie anzukämpfen.
Wir sprechen über den Abschied und heulen zusammen Rotz und Wasser.
Wir erinnern uns an unser gemeinsam verbrachtes Jahr und liegen uns dabei dankbar in den Armen.
Wir nutzen die verbleibende Zeit, um neue Erinnerungen zu schaffen und fein säuberlich zu verpacken. Sie passen jetzt ins Handgepäck.
Ich glaube, das ist dieses Conscious Uncoupling, von dem alle reden. Tut verdammt weh, aber auch irgendwie gut, dem Abschied ein erstes Mal ins Auge zu sehen. Gemeinsam zu trauern, gemeinsam zu erinnern und gemeinsam loszulassen.
Thank you.