Ich bin dein Ghost der Gegenwart.
In der Vergangenheit war ich lebendiger Teil deines Liebeslebens. In der Zukunft bin ich vielleicht Erinnerung, wer weiß das schon. Erst einmal konzentriere ich mich auf meine Präsenz in deinem Präsens. Das verleiht mir Macht über dich. Dass du mir gedanklich, manchmal auch schriftlich, aber ständig stumme Fragen stellst.
Warum bin ich verschwunden? Bin ich gegangen oder noch am selben Platz? Habe ich mich selbstständig dazu entschieden, dich zu ignorieren oder haben die Umstände mich dazu bewegt? Ob ich dich denn gar nicht vermisse? Uns? Das, was wir vielleicht hatten? Nicht ein bisschen wenigstens?
Meine Macht über dich ist eine für mich selbst sehr theoretische. Denn erstens bezieht sie sich nur auf diese eine mentale Ecke deiner pulsierenden Aufmerksamkeit, die immer bei mir ist, weil du ständig hoffst, doch noch Antworten zu erhalten. Und wenn es nur eine Antwort auf eine der letzten Textnachrichten ist. Zweitens ist meine Macht über dich theoretisch, weil ich sie nicht praktisch ausübe oder nutze. Ich interagiere ja nicht mehr mit dir. Die Perfidität und Perversion liegen rein im Potential. Auch wenn die Auswirkungen auf deine Psyche und deine Emotionen durchaus nicht theoretisch bleiben. Fragst du dich, was ich davon habe?
Ich bin dein Ghost, der Gatekeeper der Antworten, Auflösung und Erlösung. Solange ich mich verschlossen halte, wird es dir sehr schwerfallen, einen Schlussstrich unter uns zu setzen. Ob ich mir so auf simple, sichere und geistreich-ökonomische Weise die Chance erhalten will, dass du mir als Anlaufstelle bleibst? Zwar nur ein Motelzimmer, aber wo sonst erlebe ich die schmutzigste Befriedigung meiner Fantasie?
Ich bin dein Ghost, der Guardian der Ängste. Konfrontation, Konflikt, Kontakt, das wird mir irgendwann einfach alles zu viel. So viel wollte ich einfach gar nicht von dir.
Wessen Problem soll das jetzt sein? Meins etwa? Das werden wir ja sehen. Für den Konflikt zwischen uns braucht es mindestens uns beide. Wenn ich mich also aus dieser Gleichung streiche, was bleibt dir dann noch übrig außer Selbstgespräche in und mit deinem Geist? So einen Stress kann dir das doch nicht wert sein, also lass es einfach. Ist das etwa nicht so einfach? Ist das etwa meine Schuld? Gute Frage.
Ich sehe die Verantwortung da eher bei dir. Ich entziehe mich hier jeglicher Verantwortlichkeit, die nicht mich allein betrifft. Ich bin es nur mir selbst schuldig, meiner eigenen Feigheit und Faulheit nachzugeben, wenn ich es für nötig halte. Ich bin mir selbst der nächste Ghost. Diese Gleichgültigkeit sollte auf Gegenseitigkeit beruhen, Babe. Alles andere tut dir doch nicht gut. Versuch dir vorzustellen, dass ich dich schon vergessen habe. Dass es mir nicht besonders genug war zwischen uns. Und selbst wenn mich etwas an dich erinnert, sehe ich keinen Weg mehr, wieder den Kontakt zu dir aufzunehmen, ohne dabei meinen eigenen Geistern zu begegnen. Und wer will das schon?
Wer will auf einen Geist treffen? Dem Schrecken ins Gesicht sehen müssen? Die Lust und das Vergnügen am und im Horror liegen doch im Obskuren und Unausgesprochenen. Muss ich dir das Fürchten erst lehren? Glaub mir, im Fürchten bin ich Experte, deshalb kann ich mich auch so gut verstecken.
Ich bin dein Ghost, die Garnison, die vor der Furcht errichtet wird, gesehen und zurückgewiesen zu werden. Ich biete dir den Schutz, nicht erkennen zu müssen, was ich an dir nur so mittel finde. Ich lasse dich das einfach nur erahnen und vermuten.
Was das soll noch schlimmer sein? Ach, stell dich nicht so an, das weißt du doch gar nicht. Wenn du das nicht gewollt hättest, hättest du dich nicht auf mich einlassen sollen. Nein, natürlich konntest du den Ghost vorher nicht sehen. Das ist ja der Witz an einem Schreckgespenst: Die Überraschung!
Dir kann man es auch einfach nicht recht machen, was? Gut, dass ich weg bin und nur du allein dich jetzt damit auseinandersetzen musst. Ich wollte das auch gar nicht erst versuchen, ich kann nicht gut scheitern. Ob das der Grund meiner Abwesenheit ist? Fragst du mich?
Das Tragische an Ghosting ist die Einseitigkeit, die es per Definition braucht. Für Ghosting ist mehr nötig, als der Kontaktabbruch zwischen zwei Menschen. Denn wenn er einvernehmlich und aus gegenseitigem Desinteresse geschieht, würde man noch nicht von Ghosting sprechen. Erst wenn der Abbruch des Kontakts nur einseitig verläuft und zu einem Ignorieren der Kontaktaufnahmeversuche des Anderen wird, dann sprechen wir von Ghosting.
Ein großer Faktor ist hierbei auch die Schwierigkeit, die Gründe für den Abbruch zu finden. Die suchende Seite sucht irgendwann nicht mehr nach dem Ghost selbst, sondern vor allem nach seinen Beweggründen. Wir sagen uns dabei, wir benötigten das Wissen über die Gründe, um uns aus diesem leeren Unverhältnis herausschälen zu können, das uns so festhält.
Aber was passiert tatsächlich, wenn wir eine Erklärung bekommen sollten? Wenn wir uns vorher nicht erklären können, was so abstoßend an uns wirken konnte, können wir eben jenen Aspekt dann wirklich nachvollziehen, wenn er uns genannt wird? Sagen wir dann „Achja, klar“ und gehen gelöst unserer Wege? Möglich ist alles, eben darum auch eine weniger abgeklärte Reaktion.
Ghosting bedeutet Enttäuschung
Ich vermute, wir verwechseln den Umgang mit der Art von Zurückweisung, die Ghosting darstellt, mit einem Umstand, den wir rational und argumentativ behandeln und auflösen können. Dabei sind wenige Dinge emotionaler – und das zurecht – als eine so allumfassende Zurückweisung zu erfahren.
Ich habe selbst auch keine gute Strategie, um mit der tief enttäuschten Erwartung umzugehen, die eine Ablehnung meiner Person und Bedürfnisse für mich bedeuten. In meiner Erfahrung arbeitet nur die Zeit dahingehend für mich. Enttäuschung ist für mich im Moment ihrer Entstehung am intensivsten und damit schlimmsten. Wie der Schreck, den ein Geist auslöst, in dem Moment, in dem er sich unvermittelt zeigt. Das Hinsehen und Erkennen der Enttäuschung macht sichtbar, was die unerfüllten Bedürfnisse sind und wie sie erfüllt werden könnten. Und genau an diesem Punkt liegt wieder viel in meiner eigenen Macht.
Der Schreck kann lange in den Knochen stecken bleiben. Der Ghost kann noch lange seinen Erinnerungshaken in meinem Fleisch versunken lassen. Aber es wird nie wieder so schlimm sein, wie im Moment des Schreckens selbst. Ich gebe mir Zeit und ich gebe mir alternative Erfüllung meiner Bedürfnisse. Denn sie sind immer alternativ erfüllbar und wenn nicht, dann ist es Zeit, um ein professionelles Hilfsangebot einzufordern.
Und nein, ich meide heute nicht extra das „Haunted House“ aus Angst vor dem nächsten Ghost. Denn dann müsste ich mein Herz meiden.