Die fünfte Mama Message kommt von Julia, die erzählt, wieso der Kaiserschnitt besser Bauchgeburt heißen sollte. Was die „Mama Messages“ sind? Eine Gesprächsreihe über authentische Erfahrungen rund um Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft. Meine Gesprächspartnerin für diesen Text ist 41 Jahre alt und hat zwei Kinder, die zum Zeitpunkt des Interviews 3,5 Jahre und 4 Monate alt sind.
Zur Einleitung der Gesprächsreihe, geht’s übrigens hier entlang: Wieso wir mehr und früheren Austausch über Mutterschaft brauchen
Trigger-Warnung: Erwähnung von Abtreibung im Verlauf des Gesprächs (die Textstellen sind farblich gekennzeichnet, sodass sie einfach übersprungen werden können).
Cleo: Julia, hast du Mutterschaft schon immer als Teil deiner Lebensplanung betrachtet oder hat es dich unvorbereitet erwischt?
Julia: „Beides (lacht). Mir war immer klar, dass ich Mal eine Familie haben will. Trotzdem war Schwangerschaft etwas, das mich in meinen Zwanzigern in Panik versetzt hätte und es war für mich immer klar, dass ich das erst ab 30 plus machen möchte. Wobei ich rückblickend denke, dass mir in jungen Jahren Mutter werden als Katastrophe verkauft wurde von meinen Alt-68er-Hippie-Eltern, die mich auch erst mit 33 und 40 bekommen haben.
Es hieß immer, „krieg bloß nicht zu jung Kinder, das ist der „worst case“. Ich glaube, wenn ich damals mit 20 schwanger geworden wäre, wäre das der Weltuntergang für mich gewesen. Heute sehe ich das etwas anders, weil ich glaube, dass es auch Vorteile haben kann, jung Mutter zu werden.
Es war jedenfalls immer Teil meines Lebensplans. Und dann kam eine Trennung, als ich 30 war, nachdem diese Beziehung 8 Jahre gedauert hatte. Bis ich 36 wurde blieb ich Single und ich kann mich erinnern, dass in meinem Freundeskreis in der Zwischenzeit extrem viele Leute Kinder bekommen haben. Da kam auf einmal bei mir so ein bisschen Panik auf. Ich dachte: „Oh Gott, ich habe nicht mehr so lange, aber eigentlich will ich Kinder bekommen, habe aber gar keinen Partner. Ich werde einsam und allein sterben.“
Tatsächlich wird man plötzlich auch anders behandelt. Selbst meine Hippie-Mutter hat dann Bemerkungen gemacht, ob das wohl noch was wird. Und sie ist selbsternannte Feministin. Allgemein habe ich diesen subtilen Druck zu spüren bekommen, den ich aber mit 35 komplett von mir geschoben habe, weil ich von meinem Job so erfüllt war. Ich bin für meinen Beruf total viel gereist und war sehr glücklich damit. Während eines langen Aufenthalts in den USA habe kam ich irgendwann zu der Einsicht, dass mein Glück nicht an Kindern hängt, sondern dass ich es in mir trage. Kinder sind vielleicht ein Sahnehäubchen, aber man kann auch ohne Kinder im Leben glücklich werden.“
Der Druck auf die Kinderlosen
Zwischenfrage: Du hast gerade von dem Druck gesprochen, den du zu spüren bekommen hast als Anfang bis Mitte Dreißigjährige Singlefrau ohne Kinder. Wie hat sich das genau geäußert?
Julia: „An Kleinigkeiten symbolischer Art. Zum Beispiel, wenn ich bei einem Familienfest eingeladen war und die Familien saßen alle an den großen Tischen, nur ich saß am Katzentisch mit den Unverheirateten und Teenies, weil ich keinen Partner und keine Kinder dabeihatte. Vielleicht habe ich mir den Druck aber auch selbst gemacht, als ich mir am Katzentisch gedacht habe, ich sei kein vollwertiger Gast.“
Der Gedanke, sich den Druck selber zu machen, ist ja auch interessant. Denn irgendwoher muss der ja anfänglich kommen. Von selbst kommen diese Vergleiche ja nicht unbedingt auf. Ich muss bei dem Weihnachtsbild auch direkt an den Film „Bridget Jones“ denken, wo die Mittdreißiger-Single-Protagonistin an Weihnachten immer von ihrer Familie mit Kuppelversuchen belästigt wird.
Dass mir da direkt das passende Popkultur Beispiel zu einfällt, finde ich bezeichnend. Vielleicht sind genau diese Stereotype Bilder, die einfach viel medial reproduziert werden. Für mich wirkt das wie die Frage nach dem Huhn oder dem Ei: Kommt der Druck aus uns und dann wird Popkultur daraus produziert, weil relatable, oder machen wir uns den Stress, weil wir diese Muster gezeigt und vorgelebt bekommen?
„Genau. Und eigentlich hatte ich mit Mitte 30 durch meinen Job meinen Frieden mit der Situation gemacht, als ich just dann jemanden kennenlerne. In dem Moment, in dem du dir selbst den Druck nimmst, bist du vielleicht auch entspannter und offener. Ich war also 36 als ich meinen heutigen Partner kennengelernt habe. Bemerkenswert an unserem Kennenlernen fand ich, dass ich zum ersten Mal erkannt habe, dass dieser Druck, eine Familie zu gründen, nicht nur auf Frauen lastet.
Mein Partner meinte nämlich schon bei unserem ersten Date, als er noch gar nicht wusste, wie alt ich war, dass er gerne eine Familie gründen würde und dass er schon 29 sei. Ich habe mir das anhand unserer kulturellen Unterschiede erklärt, weil im Heimatland meines Partners üblicherweise mit Mitte 20 geheiratet wird und dann die ersten Kinder kommen. Dort herrscht einfach noch eine sehr katholische Kultur. Aber es war so absurd, dass mir gegenüber ein attraktiver 29-Jähriger saß, der sich Sorgen machte, dass er zu alt sei, um eine Familie zu gründen. Und ich als 36-Jährige dachte, was soll ich denn erst sagen?! Also spielte das Thema Familie schon bei unserem ersten Date eine Rolle. Er hat natürlich nicht direkt gefragt, ob wir Kinder kriegen wollen, aber mir war dadurch bewusst, das ist ein Mann mit dem Familiengründung potenziell funktioniert.
Wir wollten also beide eine Beziehung und Kinder, aber trotzdem war das etwas, das wir erst einmal zeitlich von uns weggeschoben haben. Ich war zwar schon 36, aber ich wollte trotzdem nicht schon nach 2 Monaten Kinder kriegen, weil ich denke, dass eine Beziehung erstmal eine Basis braucht, bevor man es sich überlegen kann. Aber dann bin ich nach einem Jahr Beziehung mit ihm unerwartet schwanger geworden.
Wenn die Überraschung überfordert
Wir haben zwar mit Zyklus-Tracking verhütet, also NFP, aber das hat eben einmal nicht hingehauen. Ich hatte zu Anfang unserer Beziehung bereits kommuniziert, dass ich keine Pille mehr nehmen wollte, weil ich die in meinen Zwanzigern angewendet habe und damit keine gute Erfahrung gemacht hatte. Und bei den ganzen Risiken und Nebenwirkungen hatte ich mit Ende 30 kein gutes Gefühl mehr dabei hormonell zu verhüten. Also haben wir während meiner fruchtbaren Tage mit Kondom verhütet.
Ich habe ihm aber auch zu Anfang der Beziehung direkt gesagt, selbst wenn ich ungeplant schwanger werden sollte, dann werde ich nicht abtreiben. Das war klar für mich. Denn ich war ja in einer Beziehung, in der ich sein wollte, und ich war in einem Alter, in dem ich vielleicht auch nicht mehr so schnell und oft schwanger werden konnte. Abtreibung war also etwas, das für mich persönlich nicht in Frage kam. Keine Ahnung, wie es gewesen wäre, wenn ich mit 21 schwanger geworden wäre. Jedenfalls war es auch mit 37 erst einmal ein mega Schock. Wir hatten zu dem Zeitpunkt noch eine Fernbeziehung und auf einmal war ich schwanger und konnte es nicht fassen.“
Wo auf einer Skala von „komplett überfordert“ bis „krieg ich hin“ hast du dich da befunden? Wusstest du, wie es ab dann weiter geht?
„Nein, gar nicht. Ich war tatsächlich komplett überfordert. Vorher dachte ich immer, ich denke dann nur „cool, ich bin schwanger, wie schön“. Aber es war der reine Schock. Was mir dann geholfen hat, war ein Gespräch mit meiner besten Freundin, die mich schon seit Ewigkeiten kennt. Die habe ich heulend angerufen und gesagt, dass ich nicht weiß, was ich machen soll.
Und dann meinte sie zu mir, dass ich schwanger sei, sei doch voll schön. Der Vater und ich seien ein Paar, wir wollten sowieso Kinder. Sie wollte wissen, wo denn überhaupt das Problem sei. Da habe ich zum ersten Mal gedacht, dass sie recht hat. Ich denke, was mich überfordert hat, war, dass ich den Zeitpunkt nicht selbst entschieden hatte, sondern dass es so überraschend kam.“
Wie ging es dann weiter?
„Ich habe es dann bald meinem Partner erzählt, als er mich besuchen kam. Ich wollte es ihm nicht am Telefon sagen, sondern lieber persönlich. Aber seine Reaktion war tatsächlich erst einmal krass negativ. Er meinte, er wüsste nicht, was mit der Situation anzufangen sei und wollte eine Abtreibung. Dagegen habe ich natürlich stark protestiert, aber es war gleichzeitig ziemlich schlimm für mich. Er war auch ganz unglücklich mit der Situation und brauchte tatsächlich drei Tage bis er mit dem Gedanken zurechtkam.
Für ihn ging das Ganze nicht in der richtigen Reihenfolge vonstatten: In seiner Vorstellung zieht man erst zusammen, dann heiratet man und dann bekommt man erst Kinder. Ich denke, dass das plötzlich anders los ging, hat ihn überfordert. Ich hatte mich mittlerweile eigentlich schon über die Schwangerschaft gefreut, musste dann aber einen Partner aushalten, der total unglücklich war. Ich habe ihn daran erinnert, dass ich zu Beginn der Beziehung bereits gesagt hatte, dass ich auf gar keinen Fall abtreiben würde.
Nach drei Tagen Gewöhnungszeit stand er dann allerdings mit einem Blumenstrauß vor mir und sagte, dass er sich freuen würde. Er hat wohl Zeit zum Nachdenken gebraucht und ich weiß nicht genau, was in seinem Kopf abgelaufen ist, aber letztlich haben wir beide in ähnlicher Weise unseren Frieden damit gemacht. Es war also für uns beide so, dass wir nicht von Anfang an super happy darüber waren, dass wir schwanger waren.“
Ich frage mich gerade auch, wieso sollte es für den Überraschungs-Vater in dem Moment nicht genauso ein Schock sein, wie es das für dich war? Vor vollendete Tatsachen gesetzt zu werden, ist nicht unbedingt einfach zu akzeptieren. Aber ihr habt euch ja am Ende beide über die Schwangerschaft gefreut.
„Im Nachhinein glaube ich, dass es das Beste war, was uns passieren konnte. Denn ich denke, dass wir die Planung immer weiter hinausgeschoben hätten, weil es nie der perfekte Zeitpunkt für ein Kind ist. Es passt eigentlich nie in die Lebensplanung, weil es bedeutet, dass du deine eigenen Pläne verwirfst und das macht niemand freiwillig. Ich bin sehr glücklich, dass unser erster Sohn einfach so kam. Bereit dafür ist man aber nie.“
Was ist dann passiert? Wo hast du dir Informationen über deinen neuen Zustand geholt?
„Ich habe als nächstes bei meiner Frauenärztin angerufen und wollte sofort einen Termin machen. Dann wurde mir gesagt, dass ich erst in vier Wochen vorbeikommen soll. Das gefiel mir nicht so richtig, denn ich hatte viele Fragen und wollte, dass nachgeguckt wird, was denn jetzt ist. Tatsächlich habe ich mir dann relativ viele Informationen selbst aus dem Netz zusammengesucht.
Zum Beispiel, was ich essen darf und was besser nicht, woran ich mich auch ziemlich strikt gehalten habe. Ich muss zugeben, dass ich nach dem Schock, einen positiven Schwangerschaftstest zu haben, noch eine letzte Zigarette geraucht habe (lacht). Aber dann habe ich das Rauchen für immer aufgehört und auch nie wieder eine Zigarette angerührt. Aber war das Internet meine Hauptinformationsquelle, bevor ich dann einige Zeit später an gefühlt tausenden Geburtsvorbereitungskursen teilgenommen habe.“
Waren denn andere Mütter in deinem Bekanntenkreis oder sogar deine eigene Mutter keine Quellen für dich?
„Ich habe auch mit Müttern aus meinem Bekanntenkreis gesprochen, aber für mich waren tatsächlich die Hebammen und meine Frauenärztin die besten Ratgeberinnen. Gerade meine Frauenärztin kennt mich schon fast mein ganzes Leben, ich finde sie toll und vertraue ihr. Sie war diejenige, die mir auch immer dazu riet, mich meiner eigenen Vernunft zu bedienen und gerade bei der Ernährung Risiken und Nutzen selbst abzuwägen. Denn wenn sich alles in einem vernünftigen Maß und Rahmen bewegte, dann konnte ich auch ab und zu mal eine Ernährungs-Ausnahme machen. Ich habe trotzdem auf relativ viele Nahrungsmittel verzichtet, um auf Nummer Sicher zu gehen. Wahrscheinlich zeichnet das auch meine Generation von Müttern aus – wir möchten nur ungerne Risiken eingehen.“
Von unangenehmen Überraschungen…
Was war für dich unerwartet am schwanger sein?
„Na, all die negativen Begleiterscheinungen, die nicht so offen kommuniziert werden. Schwanger sein war für mich zunächst mal ein total schönes Körpergefühl. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Auch zu beobachten, wie mein Bauch wächst und meine Haare wachsen und meine Brüste wachsen. Ich wurde so ein richtig rundes Ding und fühlte mich schön und weiblich. Bei mir war das also richtig so, wie man’s erwartet und von diesen Bildern kennt, wo sich Schwangere selig über den Bauch streicheln.
Unerwartet waren dabei aber tatsächlich viele Dinge, die ich als unangenehm empfunden habe. Zum Beispiel, dass man ein erhöhtes Risiko für Hämorriden hat und dass die Muskulatur im Becken immer weicher wird. Das bedeutet, irgendwann fällt es schwer Urin und Stuhl zu halten. Ich kann es gerne mal mit zwei furchtbaren Bildern verdeutlichen (lacht).
Als ich hochschwanger war, habe ich das Dschungel-Camp geguckt – mein absolutes Guilty Pleasure und meine liebste Trash-TV-Sendung überhaupt (lacht). Ich habe mich jedenfalls beim Zugucken totgelacht und saß dann auf einmal auf einer nassen Couch. Und ich dachte zuerst, meine Fruchtblase sei gesprungen und dass es jetzt mit der Geburt los ginge. Deshalb habe ich meine Hebamme angerufen, die mich dann untersuchte. Nur um festzustellen, dass ich mir schlicht in die Hose gepinkelt hatte.
Eine andere Anekdote ist mir aufgrund der Hämorriden passiert, ein absoluter Albtraum während meiner ersten Schwangerschaft. Ich war kugelrund, kurz vor Ende der Schwangerschaft und gerade in einem Einkaufszentrum auf der Rolltreppe unterwegs. Als ich plötzlich merkte, dass ich ganz, ganz dringend „groß“ auf die Toilette musste. Mir stand direkt richtig der Schweiß auf der Stirn. Panisch versuchte ich mich daran zu erinnern, wo nochmal die Besuchertoilette war. Als es mir dann plötzlich auf der Rolltreppe einfach hinten rauslief.
Ich habe mich buchstäblich mitten auf der Rolltreppe im Einkaufszentrum eingeschissen. Das war die schlimmste Schwangerschaftserfahrung überhaupt für mich. Ich hab’s dann auf die Toilette geschafft und musste mich da notdürftig sauber machen. Das waren so Erlebnisse, wonach ich mich gefragt habe, was da gerade mit meinem Körper passiert. Das sind eben keine Aspekte dieser Bilderbuch-Schwangerschafts-Idylle, die man auf den Fotos und in der Werbung sieht. Diese Erlebnisse zählten zu den unerwarteten Sachen. Genauso wie die großen Füße durch Wassereinlagerung im Körper. Das hat mir tatsächlich alles niemand vorher erzählt (lacht).“
Hast du eine Idee, warum das niemand erzählt?
„Naja, das ist halt auch mega intim. Ich muss mir da wahrscheinlich auch an die eigene Nase fassen, weil ich in meinen Schwangerschaften auf Instagram auch nur schöne Bauchfotos gepostet habe. Es war mir bisher auch zu intim öffentlich über diese negativen Überraschungen zu sprechen. Das mache ich jetzt in diesem Interview, weil ich hier gerne ehrlich sein möchte, aber das ist tatsächlich nichts, was ich auf meinen Profilen in sozialen Netzwerken posten würde.“
Klar, aber es gibt ja auch noch eine Stufe zwischen „nichts erzählen“ und „direkt jedes Detail twittern“. Es gäbe ja auch noch die Möglichkeit, dass du deine Erlebnisse mit nahestehenden Personen teilst.
„Genau, denen habe ich das auch alles erzählt. Vor meinen Freundinnen nehme ich dahingehend kein Blatt vor den Mund und sie haben mir dann auch gleichwertige Dinge erzählt. Dadurch, dass du dann einmal so ein Fass aufmachst, rücken auch die anderen mit solchen Geschichten heraus.“
Vor allem wahrscheinlich, wenn man anfängt sich unter Müttern zu öffnen oder hast du auch mit Freundinnen, die keine Mütter waren, über deine Erfahrungen gesprochen?
„Doch, ich habe das besonders gerne denjenigen erzählt, die sich so sehr wünschten schwanger zu werden (lacht). Nämlich, dass das alles kein Zuckerschlecken ist. Es kommt für mich nicht darauf an, ob diejenige Mutter ist oder nicht, sondern eher darauf, wie nahe wir uns stehen. Ich denke nicht, dass ich jetzt ohne gegebenen Anlass auf der Arbeit anfangen würde über solche Themen zu sprechen. Also entfernten Kolleg*innen muss ich jetzt nicht erzählen, wie mich gerade meine Hämorriden plagen.“
Verständlich. Es ist auch nicht die Aufgabe einer Einzelperson sich an der Scham einer ganzen Gesellschaft abzuarbeiten. Allerdings könnte es in meinen Augen ein Schritt in die richtige Richtung sein, sich hinzustellen und einfach mal auszusprechen, was gerade los ist, um ein Bewusstsein zu schaffen, das ins Allgemeinwissen einsickert. Damit wir diesen Überraschungseffekt darüber verringern, dass es doch teilweise sehr große Unterschiede im Glamour zwischen den schönen Bauchfotos und den anderen Begleiterscheinungen von Schwangerschaft und Mutterschaft gibt.
Denn wenn wir da nicht einmal anfangen zu enttabuisieren, dann beißt sich die Katze sozusagen weiterhin in den Schwanz: Wir sind überrascht und eventuell dadurch verschämt und sprechen deshalb nicht miteinander, weshalb die nächsten wieder überrascht oder sogar überfordert sind mit der Realität. Ich kann aber verstehen, wenn Leute sagen, dass sie das als Individuum für die Gesellschaft nicht leisten müssen bzw. nicht als ihre Aufgabe sehen.
„Ja, das möchte ich für mich selbst auch nicht als Anspruch oder Aufgabe sehen.“
… und überraschend Angenehmem
„Eine anderer überraschender Aspekt in der Schwangerschaft, den ich positiv fand, war, wie horny ich war. Ich hatte viel darüber gehört, dass die Eltern Angst vor Sex in der Schwangerschaft haben, weil sie fürchten, dass es dem Baby schaden könnte. Ich habe tatsächlich auch diese Art von Fragen an meine Frauenärztin gerichtet (lacht), die mir dann aber sämtliche Ängste genommen hat. Bei mir haben besonders im zweiten Trimester die Hormone komplett verrückt gespielt. Also richtig krass.
Mein Freund und ich haben einen zweiwöchigen Baby-Moon auf Fuerte Ventura verbracht und ich glaube, wir hatten jeden Tag Sex. Mehrmals. Ab dem dritten Trimester habe ich mich nicht mehr so stark von meinen Hormonen beeinflusst gefühlt und ich wurde ja auch immer runder, weshalb der Sex von den Stellungen her herausfordernder wird. Meistens funktioniert es dann nur noch in der Löffelchen-Stellung so richtig.
Aber ich habe es sehr genossen und ich hatte so intensive Orgasmen, dass ich mich in meiner zweiten Schwangerschaft auch wieder richtig darauf gefreut habe, das nochmal erleben zu können. Ich kann es nicht so richtig gut beschreiben, aber es fühlte sich an wie eine Mischung aus klitoralem und uterinem Orgasmus. Meine ganze Gebärmutter zuckte und alles kitzelte in meinem Bauch, das Gefühl weitete sich in Körperregionen aus, von denen ich nicht gedacht hatte, dass dort Orgasmen stattfinden können. Das war auch so ein Thema, das ich gerne mit anderen Freundinnen besprochen habe und was leider nicht jede so erlebt hat wie ich. Aber die Mehrheit hat mir erzählt, dass es ihnen ähnlich ging. Manche hatten in der Zeit keinen Partner und haben daher sehr viel masturbiert – habe ich übrigens auch noch on top.“
Das widerspricht ja auch stark diesem Bild von der einfach in sich zufrieden ruhenden, ihren Bauch streichelnden Schwangeren – aber in die andere, aktiv-fordernde Richtung. Also im Gegensatz zur Darstellung der weichen, sanften, fast heiligen Mutter findet die „horny Schwangere“ auch medial nur in Komödien statt.
„Umso faszinierender war es dann auch für mich diese Aspekte selbst zu erleben. Über den uterinen Orgasmus hatte ich schon einiges gelesen, aber das auch zu fühlen war toll und ich vermisse dieses Gefühl. Seitdem ich das einmal hatte, empfinde ich den „normalen“ Orgasmus gar nicht mehr als so intensiv. Ich würde mir wünschen, dass man über das sexuelle Erleben als Schwangere noch etwas mehr in Austausch kommt, weil sich wahrscheinlich noch viel zu viele Menschen gar nicht trauen während der Schwangerschaft Sex zu haben. Weil sie sich möglicherweise unbegründet Sorgen machen.
Auf der anderen Seite gibt es dann allerdings den negativen Aspekt, dass in den ersten Monaten nach der Geburt so ein hormonelles Tal folgt, in dem ich total down war. Das kann eine lange sexlose Phase bedeuten, weil die Mutter keine Lust auf Sex bekommt und oft auch, weil die Eltern schlichtweg keine Zeit und Ruhe für Intimität haben. In dieser Phase hatte ich zwar Sex mit mir selbst, aber keine Lust auf Sex mit meinem Partner und die ganze hormonell ausgelöste Geilheit aus der Schwangerschaft war nach der Geburt bei mir völlig verpufft. Ab dann standen neue hormonelle Gegebenheiten und eben die Bindung zum Kind im Vordergrund.“
Die Geburt ist das, was geschieht, während du Pläne machst
In Vorbereitung auf diese Gesprächsreihe habe ich des Öfteren den Satz gehört, Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft seien so individuell, dass man sich da gar nicht drauf vorbereiten könne. Deshalb gebe es nicht DAS Wissen, das man noch-nicht-Müttern mit auf den Weg geben könne. Wie siehst du das?
„Ja, das stimmt tatsächlich. Du kannst dich nicht vorbereiten. Ich glaube, der Trick dabei ist, alles sehr offen anzugehen.
Beim ersten Mal hatte ich eine sehr explizite Vorstellung, wie eine Geburt sein soll und abzulaufen hat. Nämlich so natürlich wie möglich. Sowas kann aber auch Druck erzeugen. Das hieß, dass für mich total klar war: Ich muss in ein Geburtshaus gehen, weil ich super natürlich unterwegs sein will. Ich habe mir vorher überlegt, welche Musik laufen sollte, ich habe Räucherstäbchen gekauft und mir mithilfe von Podcasts Entspannungsübungen in der Badewanne angeeignet. Stichwort „Hypnobirthing“. In diesen Podcasts wird dir dann verkauft, dass du dich nur entspannen und der Natur ihren Lauf lassen musst und dann wird alles gut. Und alles andere sei Mist. Krankenhaus sei Mist, medizinische Eingriffe seien Mist und so weiter. Ich hatte dadurch also eine krasse Idealvorstellung von Geburt.
Als meine Bewerbung für ein renommiertes Geburtshaus angenommen wurde, habe ich mich gefühlt, als hätte man mich an der Yale University zugelassen (lacht). Sogar meine Frauenärztin hat mich beglückwünscht und alles wirkte total toll. War es aber letztlich nicht. In diesem Geburtshaus rotieren die Hebammen in Schichten, sodass ich keine eigene, feste Hebamme hatte, die die ganze Zeit für mich zuständig war. Dazu kommt, dass die Philosophie des Hauses sich stark um „selbstbestimmte Geburt“ drehte. Was ja auch eine schöne Sache ist, wenn du ungefähr weißt, wie der Hase läuft.
Aber ich bin eine Persönlichkeit, die Hilfe braucht und der du sagen musst, was sie tun soll, wenn sie etwas zum ersten Mal macht. Atme so, lauf mehr rum, bring die Wehen in Gang. Die Hebamme, die die meiste Zeit bei mir war, hat mich damit aber relativ allein gelassen oder besser gesagt, ich fühlte mich allein gelassen, weil ich mehr Instruktionen gebraucht hätte.
Letztendlich begann alles mit Räucherstäbchen und Kerzenschein und endete nach 26 Stunden im Krankenhaus mit Kaiserschnitt. Das heißt, das war für mich und für meine damalige Vorstellung das Worst Case Szenario.
Ich habe mich wie eine totale Versagerin gefühlt und denke, dass das ein Probleme ist, das dadurch entsteht, dass die unbedingte Natürlichkeit der Geburt als Nonplusultra propagiert wird. Und dass es einem Versagen gleichkommt, wenn man einen Kaiserschnitt in Anspruch nimmt. Bei mir ist es irgendwann zu einem Geburtsstillstand gekommen, das bedeutet, es ging nicht weiter, obwohl die Fruchtblase schon geplatzt war. Ich wurde dann ins Krankenhaus verlegt und nach 26 Stunden hat dann der Arzt gesagt, dass wir aktiv werden müssen, weil sich abzeichnete, dass die Situation für meinen Sohn gesundheitsgefährdend wurde.
Dann wurde mir der Bauch aufgeschlitzt, ich musste zum ersten Mal in meinem Leben ins Krankenhaus und ein paar Stunden später rollte ich wie so eine 90-jährige Oma mit einem Katheter und im Rollstuhl über die Krankenhausflure. Am Ende war es nicht dieses Happy Birth Giving-Erlebnis im Geburtshaus. Aber was ich gerne anderen Frauen mit auf den Weg geben würde: Sei offen für alles unter der Geburt. Denn die Hauptsache ist, dass dein Kind und du letztlich gesund seid.
Ich hatte vor meiner zweiten Geburt einen ganz tollen Geburtsvorbereitungskurs, in dem die Hebamme uns genau das mit auf den Weg gegeben hat. Die Message war: Alles ist okay, es gibt nicht die ideale Geburt. Sie hat auch davon gesprochen, dass wir nicht Kaiserschnitt sagen müssen, sondern den Begriff „Bauchgeburt“ verwenden können.
Julias Message: Selbstbestimmt schicksalsergeben – Den Frieden mit der Bauchgeburt machen
Das ist tatsächlich ein Thema, bei dem die Unsensibilität meiner Umwelt mich auch längere Zeit später immer noch getriggert hat. Ich war nach meiner ersten Geburt bei einer Massage durch einen männlichen Masseur. Und ich habe ihn ausdrücklich um Rücksichtnahme auf meine Kaiserschnittnarbe gebeten. Daraufhin fing er während der Massage an zu sinnieren, dass er gar nicht wüsste, warum immer so schnell Kaiserschnitte gemacht würden. Ich antwortete dann, dass es bei mir nach langer Zeit und Geburtsstillstand dazu gekommen war, was für ihn aber offensichtlich kein legitimer Grund war. Er beschwerte sich, dass Krankenhäuser heutzutage ja viel zu viele Untersuchungen und Eingriffe unter der Geburt machen würden.
Ich lag da und dachte mir nur so: Du elender Sack. What the f*uck do you know about giving birth?! Was weißt du über den Uterus, über eine Geburt, sei sie vaginal oder nicht. Du weißt gar nichts. Du weißt nichts davon, wie es ist, schwanger zu sein, du weißt nicht, wie es ist, eine Geburt zu durchleben. Ich habe es aber nicht ausgesprochen, weil es auch einfach die unmöglichste Situation für so eine Diskussion war, die ich ja nicht einmal mit ihm führen wollte. Ich wurde innerlich richtig wütend, weil er mir wieder dieses Gefühl gab, versagt und zu schnell klein bei gegeben zu haben.
Andere Trigger können auch schon sehr subtile Sachen sein. Als eine Arbeitskollegin von mir ein Kind bekommen hatte, schrieb sie in unsere WhatsApp-Gruppe, dass ihre Tochter „auf natürlichem Wege geboren“ worden sei. Ich habe das gelesen und mich direkt gefragt, warum man das so extra betonen muss? Soll das heißen, ich selbst habe auf unnatürlichem Wege geboren? Das stimmt nicht, bei mir gingen die Wehen natürlich los. Letztlich habe ich zwei Kaiserschnitte gehabt, aber bei beiden Malen setzten die Wehen von selbst ein. Was definiert eine natürliche und was eine unnatürliche Geburt? Wie ist das bei einer Frau, die vaginal entbindet, aber eine Einleitung der Geburt brauchte?
Tatsächlich hat mich meine zweite Geburt mit dem Kaiserschnitt versöhnt. Aber auch erst dann. Ich hatte wahnsinnige Angst bei der zweiten Geburt. Bei der ersten Geburt hatte ich überhaupt keine Angst, ich hatte ja meine Hypno-Birthing Podcasts gehört und dachte, ich muss mich nur entspannen, dann wird das schon. Aber bei der zweiten Geburt war es dann ganz anders.
Meine Schwangerschaft verlief ohne Komplikationen, bis ein paar Tage vor der Geburt meine Frauenärztin eine kleine Unregelmäßigkeit im CTG festgestellt hatte. Im Krankenhaus sagte,die Ärztin, die mich dort untersuchte, dass sie noch für denselben Tag einen Kaiserschnitt vorschlagen würde. Zu dem Zeitpunkt befanden wir uns noch ein paar Tage vor dem eigentlichen Geburtstermin, aber sie begründete die Entscheidung mit meinem Alter. Und ich dachte nur: Auf gar keinen Fall, deine Mudder macht’n Kaiserschnitt! Und wieso aufgrund meines Alters?!
Ich war nicht generell gegen einen Kaiserschnitt, aber für mich muss es dazu eine medizinische Indikation geben. Und nur weil es den konventionellen Maßstab in Krankenhäusern gibt, dass man ab 35 Jahren als „Spätgebärende“ gilt, soll jetzt bei mir alles riskanter sein, obwohl es sonst keine Probleme gibt?
Dasselbe gilt für Maßnahmen zur Geburtseinleitung. Wenn du als Spätgebärende einen Tag über Termin bist, wird die Geburt eingeleitet. Das ist eine sehr schmerzhafte Prozedur, bei der dem Körper künstlich Hormone zugeführt werden. Ich habe den Vorschlag der Ärztin dann abgewiesen und gesagt, dass ich am selben Abend gerne nochmal zu einer weiteren Untersuchung komme, aber nicht bereit bin „einfach so“ einen Kaiserschnitt zu machen. Diese Selbstbestimmtheit war etwas, das mir die Hebamme in meinem zweiten Geburtsvorbereitungskurs mitgegeben hatte.
Ich wusste mittlerweile, was auf mich zukommt und wie die Geburt abläuft. Das ist eben das Problem beim ersten Mal, alles ist komplett abstrakt. Du kannst alle möglichen Bücher lesen und Podcasts hören und dich damit gedanklich auseinandersetzen, aber du hast trotzdem keine Ahnung, wie eine Wehe abläuft. Der Rat der Hebamme, der mir dahingehend am meisten geholfen hat, war, dass ich dem medizinischen Personal vertrauen soll, aber trotzdem gerne nachfragen, wenn es um solche Entscheidungen geht. Sie hat uns in dem Kurs Mut gemacht, selbstbestimmt zu sein und nicht alles mitmachen zu müssen, dass eine Ärztin vorschlägt, obwohl es uns selbst total zuwiderläuft. Als dann bei der nächsten abendlichen Untersuchung im Krankenhaus wieder Auffälligkeiten bei den Herztönen auftraten, habe ich eingewilligt zur Beobachtung über Nacht dort zu bleiben, wollte aber auch immer noch keinen Kaiserschnitt machen lassen.
Zu Untersuchungen und Abwarten habe ich zugestimmt und musste mich dann aber nochmal dagegen wehren, dass die Geburt eingeleitet werden sollte, obwohl wir nicht einmal den vorher errechneten Termin erreicht hatten. Ich habe an diesem Abend ziemlich viel geweint, weil das alles sehr aufwühlend war und in der Nacht setzten plötzlich die Wehen ein. Ganz von alleine. Das war für mich die beste Lektion in Sachen „Hör auf dich selbst!“. Am Ende lief es dann trotzdem wieder auf einen Kaiserschnitt hinaus, aber das lag daran, dass sich die Nabelschnur um den Hals meines Sohnes gewickelt hatte. Das war Unglück, das niemand kontrollieren konnte. Aber – und das war wichtig für mich – die Geburt ging von selbst los und ich war stolz, dass ich bis zum letzten Moment die Wehen gut veratmen und mit allem gut umgehen konnte.
Ich wäre für einen vaginale Geburt bereit gewesen, aber am Ende lief es eben anders und ich war vollkommen im Reinen mit diesem zweiten Kaiserschnitt, weil die Gesundheit meines Sohnes vorgeht. Mein Fazit zu meinen Geburten ist:
Der Kaiserschnitt sollte Bauchgeburt heißen und wir sollten aufhören diesen Druck aufzubauen, dass alles nur so natürlich wie möglich abzulaufen hat.
Manchmal funktioniert es eben nicht so natürlich wie möglich und ich finde, wir sollten froh sein, dass die Medizin uns helfen kann. Denn sonst würden meine beiden Kinder heute wahrscheinlich nicht leben.“
Und vielleicht lohnt es sich auch, das Konzept der Spätgebärenden bzw. der Risikoschwangerschaft nochmal neu zu definieren.
„Das finde ich auch, denn es gibt immer mehr Spätgebärende.“
Es ist übrigens sehr schön zu hören, wie du deinen Frieden mit den Bauchgeburten gemacht hast. Ich denke, viele Mütter haben mit diesem Thema auch heute noch zu kämpfen.
„Ja, meine Söhne haben sich von selbst auf den Weg gemacht und am Ende hat mich das mit meinen Erlebnissen versöhnt. Ich sehe das heute rückblickend auch anders, ich bin keine Versagerin, nur weil ich nicht vaginal geboren habe.“
Stillen yay – Stillen nay
Wie war denn die erste Zeit post partum für dich? Hast du gestillt? Wie lief das ab?
„Ich hatte auf jeden Fall Bock, beide zu stillen. Es gibt ja auch Frauen, die das nicht möchten, was man sicherlich auch akzeptieren sollte, ich persönlich allerdings schwierig finde. Denn Muttermilch ist erwiesenermaßen schon die optimale Ernährung fürs Kind. Meine Hebamme hat mir erklärt, dass nicht nur Kinder, die gestillt werden, weniger anfällig für Krankheiten sind, sondern auch die stillenden Mütter.
Post partum war nach meiner ersten Bauchgeburt für mich ganz furchtbar, weil mein Sohn mir nach einem Tag als erstes „weggenommen“ wurde und auf die Neugeborenen-Station kam. Er ist mit einem Infekt zur Welt gekommen, weil die Geburt trotz geplatzter Fruchtblase noch so lange gedauert hat. Wenn die Fruchtblase einmal geplatzt ist, ist das Kind nicht mehr vor Bakterien und Keimen geschützt, die dann in den Uterus gelangen können. Dadurch kommt es dann häufig zu Infektionen, die mit Antibiotika behandelt werden müssen.
Für mich war es aber zusätzlich zu der in meinen Augen misslungenen Geburt nur noch schlimmer, dass mein Sohn auf eine andere Station verlegt wurde. Deshalb musste ich in den ersten Tagen meine Milch abpumpen und er wurde mit Fläschchen gefüttert. Nach ein paar Tagen war er aber gesund und dann konnte ich ihn stillen. An dieser Stelle möchte ich auch nochmal auf die Privilegien unserer medizinischen Versorgung in Deutschland hinweisen, denn unter anderen Umständen, in denen mein Sohn keine Antibiotika hätte erhalten können, wäre er höchstwahrscheinlich einfach ein paar Tage nach seiner Geburt gestorben. Das trat mir dadurch nochmal sehr deutlich vor Augen, weswegen ich es auch sehr vermessen finde, wenn Geburten im Krankenhaus immer als so unnatürlich und schlecht verteufelt werden.
Das kann natürlich auch nur aus der Perspektive sehr privilegierter Eltern aus der ersten Welt geschehen, die zwischen Alternativen auswählen können. In anderen Gegenden der Welt hätte mein Sohn ohne ein Krankenhaus nicht überlebt. Das blieb uns aber alles erspart und ich konnte dann stillen, was tatsächlich aber sehr viel Übung braucht. Selbst bei meinem zweiten Kind, bei dem ich dann dachte, ich weiß ja schon, wie es läuft, brauchte ich genauso wieder Hilfestellung von der Hebamme und dieselbe Eingewöhnungszeit. Jedes Kind ist dahingehend anders und das Kind selbst muss auch erst einmal lernen, wie es an der Brust trinkt.
Ich musste selbst neu lernen wieder die Brust zu geben. Das war mir vorher gar nicht bewusst. Ich dachte, Stillen sei wie Fahrrad fahren und wenn man es einmal gemacht hat, könnte man es nicht mehr verlernen. Aber da es sich dabei um ein Zusammenspiel von dir und deinem Kind handelt, ist jede Situation wieder neu.
Ganz interessant fand ich auch meine persönlichste Entdeckung in Bezug aufs Stillen, die eigentlich auch nochmal ein ganz anderes Tabu berührt: Ich habe wirklich extrem überempfindliche Brustwarzen. Ich bin dort wahrscheinlich empfindlicher als an der Klitoris. Wenn mich jemand dort küsst oder berührt, dann macht mich das unglaublich horny. Dementsprechend hatte ich so meine Sorgen, wie das wohl mit dem Stillen werden würde.
Es ist letztlich nicht so gekommen, dass ich beim Stillen andauernd horny war, aber es gibt Situationen, in denen ich mich tatsächlich konzentrieren muss (lacht). Also wenn mein Sohn zum Einschlafen nicht mehr richtig trinkt, sondern nur noch so ewig nuckelt, dann spüre ich, dass mich das irgendwie anmacht, obwohl ich es natürlich gleichzeitig total weird finde. Alles in mir denkt dann nur noch „STOPP“ und ich muss mich wirklich konzentrieren, um es nicht tatsächlich geil zu finden.
Aber es gibt dann eben immer wieder Situationen, in denen ich durchs Stillen horny werde und es fühlt sich absurd stark nach einem Tabu an, weil ich ja mit meinem Kind involviert bin in diesem Moment. Es soll ja darum gehen, mein Kind zu ernähren und ich will mit ihm ja nichts Sexuelles verbinden. Aber die Kombination aus dem Wohlgefühl und der Hormonausschüttung beim Stillen hat hin und wieder einfach so eine Wirkung auf mich.“
Das klingt, als wäre das in der Tat nicht ganz einfach zu verarbeiten (lacht).
Der Druck, der auf Müttern ruht
„Bisher habe ich natürlich nur von den schönen Seiten des Stillens erzählt. Es ist natürlich auch etwas Schönes, aber tatsächlich ist es oft auch mit vielen Schmerzen verbunden. Deswegen verstehe ich auch Frauen, die irgendwann aufgeben oder sich dagegen entscheiden, weil es ihnen zu viele Schmerzen bereitet. Ich habe einen Sohn, der gerne erst an der Brust nuckelt und dann plötzlich seinen Kopf nach hinten reißt, sodass ich echt manchmal fürchte, dass er mir den Nippel abreißt.
Eine Bekannte hat mir mal gezeigt, dass in einer ihrer Brustwarzen wirklich ein Stück fehlt, aus der Zeit, in der ihr Kind gerade Zähne bekam. Aber auch weniger brutale Sachen können mehr als unangenehm werden: Stundenlanges Nuckeln kann irgendwann weh tun, der Nippel kann wund und rissig werden. Und auch wenn es dafür Salben etc. gibt, letztlich bist du mit deinem ganzen Körper in diese Angelegenheiten involviert und dazu gehören Freude und Wohlbehagen genauso wie Schmerz. Aber es ist eben nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen und ich habe auch schon so starke Schmerzen beim Stillen gehabt, dass ich es einfach abgebrochen habe.
Aber man ist als Mutter – und da kann man auch die Hormone für verantwortlich machen – tatsächlich dazu bereit, sehr viel zu ertragen für das Wohlergehen des Kindes. Gleichzeitig überfällt mich manchmal dann so ein Selbsthass und ich frage mich, warum ich das eigentlich alles mache (lacht).“
Ich denke, das Bild von genau dieser Selbstaufgabe herrscht auch als Erwartung vor. Ich bekomme den Eindruck, dass es gar keine wirklich freie Entscheidung ist, ob man stillt oder wann man abstillt, sondern dass da viel von diesem „es wäre aber schon besser so“ – Druck dahintersteht. Genauso wie sich eine Bauchgeburt für viele als Versagen anfühlt, können Gefühle der Unzulänglichkeit entstehen, wenn es mit dem Stillen nicht so klappt, wie gedacht.
„Genau, ich schließe mich da auch selbst mit ein. Ich habe immer zur gleichen Zeit ein Kind bekommen wie meine Schwägerin und war schockiert, als ich mitbekam, dass sie schon nach vier Monaten fast gänzlich abgestillt hatte. Aber Fakt ist auch, in Frankreich, wo sie und ihre Familie leben, gibt es keine Elternzeit und sie musste schlicht wieder arbeiten gehen.
Es ist immer eine sehr große Frage, wie Stillen und Alltag bzw. Arbeitsalltag geregelt werden können, wenn man nicht das Privileg hat, nicht arbeiten zu müssen. Mit Homeoffice funktioniert es vielleicht wieder ein Stückchen besser, aber sehr viele Mütter dieser Welt haben ja überhaupt nicht die Möglichkeit zu solchen Jobs. Das bedeutet, dieses Vollstillen ist eben ein Privileg, was schlicht nicht alle Menschen haben. Ich betrachte mich selbst auch als Teil der Quelle des Erwartungsdrucks, weil ich eben auch zuerst die Nase darüber gerümpft habe, dass meine Schwägerin aus meiner Sicht so früh abgestillt hat. Bis mir dann eben klar wurde, wie unterschiedlich unsere Lebensrealitäten dahingehend sind.“
Ist es in deinen Augen unrealistisch zu denken, dass mehr ehrlicher und offener Austausch über die Realität von Mutterschaft dazu beitragen würde, dass dieser Erwartungsdruck schrumpft?
„Naja, ich habe mittlerweile die Haltung, dass jede Mutter selbst wissen muss, was sie tut. Das gilt aber für jegliche Bereiche. So viele Leute wollen dir Ratschläge aufzwingen und dir erzählen, wie es am besten geht. Diese Anspruchshaltung kommt von allen Seiten und bezieht sich auch auf alles: Wie die Geburt zu laufen hat, wie du stillst, wie du dein Kind erziehst. Dabei sind jedes Kind und jede Mutter und jedes Bedürfnis anders.
Mein Bedürfnis ist es zum Beispiel immer gewesen, als Mutter eine Auszeit von der Arbeit zu nehmen. Ich habe Bock auf Elternzeit. Es gibt aber auch Leute, die darauf keinen Bock haben oder die sich das gar nicht leisten können. Und ich denke, das sind alles Entscheidungen, die sich Außenstehende nicht anmaßen sollten ungefragt zu bewerten und bei denen man sich trauen sollte, sie selbstbestimmt zu treffen. Das ist das, was mir meine Hebamme mitgegeben hat: Wenn es sich für dich gut anfühlt, dann ist es okay.
Ich denke, da müssen auch Mütter im Umgang miteinander viel toleranter für andere Meinungen und Überzeugungen werden. Ich habe den Eindruck, dass da vor allem in den sozialen Netzwerken oft regelrecht übereinander hergefallen wird, wenn sich unterschiedliche Ansätze für dieselbe Sache zeigen.“
Ich höre da raus: Wir sollten uns die Übergriffigkeit abgewöhnen zu meinen, dass das, was für uns selbst richtig war, auch der beste Weg für alle anderen ist. Das klingt nach einem Appell an andere Eltern, aber auch an kinderlose Menschen oder an Menschen, die Institutionen vertreten und eben Erwartungen und Annahmen gegenüber Menschen mit Kindern haben.
Freiheit, Kinderlosigkeit, Mütterlichkeit
„Genau. Apropos kinderlose Menschen: Für mich standen Kinder ja irgendwie immer auf dem Programm und ich hatte nie so richtig Verständnis dafür, dass sich jemand bewusst gegen Kinder entscheiden kann. Ich dachte immer, dann muss einem doch im Leben etwas fehlen. Aber seitdem ich Mutter bin und mir die Freiheit der Spontaneität abhandengekommen ist, kann ich das sehr gut verstehen. Also warum eine Frau sich gegen Kinder entscheidet.
Ich spiele nicht im Team „regretting motherhood“, obwohl ich manchmal Phasen habe, in denen ich tränenüberströmt denke, dass mir alles zu viel ist. Vor allen Dingen die andauernde Fremdbestimmtheit durch ein anderes Wesen. Und auch weil ich banale Dinge vermisse wie in einem Café zu sitzen, einen Kaffee zu genießen und einfach mal eine halbe Stunde ein Buch zu lesen.
Ich musste erst Mutter werden, um Frauen zu verstehen, die sich dagegen entscheiden. Trotzdem würde ich meine Kinder nie wieder hergeben wollen. Ich finde es alles schön so, wie es jetzt ist. Aber ich glaube, dass man als Mutter einen großen Teil der eigenen Freiheit aufgibt und ich verstehe Menschen, denen diese Freiheit eben wichtiger ist.“
Ich kann mir auch vorstellen, dass für dieselbe Person verschiedene Lebenswege gleich möglich sind. Ich meine damit, dass mehrere Lebenswege denselben Menschen gleichfalls glücklich machen können.
„Absolut. Ich denke auch, wenn ich meinen Partner damals nicht getroffen hätte und heute noch Single wäre, dann hätte ich mein Glück eben anders gefunden. Ich habe eine Freundin, die auch über 40 ist, Single und keine Kinder hat und die damit manchmal ganz offen hadert. Dann versuche ich ihr vor Augen zu führen, dass man im Leben aber auch nie alles haben kann. Dass alles seine Vor- und Nachteile hat.
Nur weil ich selbst jetzt eine Familie habe, ist bei mir ja nicht automatisch alles toll und eitel Sonnenschein. Sie hat ganz viele Freiheiten, die ich nicht mehr habe und kann damit jede Menge Sachen anstellen, die ich nicht machen kann. Dafür fehlt ihr möglicherweise in gewissen Momenten ein Partner oder eine Familie. Es hat also alles immer mehrere Seiten und ich glaube fest daran, dass ich auf die eine, aber auch auf die andere Weise in meinem Leben glücklich geworden wäre.“
Was macht in deinen Augen eine Person zur Mutter?
„Was mich selbst zur Mutter gemacht hat, ist, zum ersten Mal das Gefühl bekommen zu haben, für einen anderen Menschen sterben zu können. So sehr ich meinen Partner liebe, so sehr ich meine Eltern liebe, ich würde nicht für sie sterben. Das klingt alles so pathetisch, aber für meine Kinder würde ich mein Leben geben. Das war ein Gefühl, das ich vorher absolut nicht kannte.
Ein anderes, neues Gefühl ist diese unglaubliche, bedingungslose Liebe, die ich nicht einmal mit meinem Partner teile. Meine Kinder können total nervig sein und in einem Moment könnte ich ihnen den Hals umdrehen, weil sie schon wieder schreien oder weil sie bocken und trotzig sind und mich dadurch wahnsinnig machen. Aber ich liebe sie trotzdem so abgöttisch. Als Mutter liebe ich so, wie ich noch nie zuvor geliebt habe. Das ist eine Art von Liebe, die über allem anderen steht. Diese Erfahrung gemacht zu haben, macht tatsächlich für mich auch all die negativen Punkte, die Mutterschaft mitgebracht hat, wieder wett.
Diese Achterbahn der Gefühle, diese unglaubliche mentale Belastung gerade mit zwei Kindern, die mich manchmal ans Limit bringt, nur damit ich mein Kind im nächsten Moment wieder so abgöttisch lieb habe… Das hat mich persönlich zur Mutter gemacht. Womit ich gleichzeitig belohnt worden bin und was ich richtig gut finde an Kindern, ist, dass sie mir wieder einen ganz neuen Blick auf die Welt vermitteln.
Das können ganz banale Dinge sein wie, dass mein jüngster Sohn einen Wassertropfen anguckt, als wäre das das Krasseste, was er in seinem ganzen Leben gesehen hat. Und das erinnert mich dann an die Schönheit von Wasser in der Badewanne, das Plätschern, die Geräusche und Wahrnehmungen. Du siehst durch Kinderaugen die Welt noch einmal neu und entdeckst dadurch eine ganz eigene Schönheit in der Einfachheit.“
Liebe Julia, ich bin dir für deine offenen und furchtlosen Worte so, so dankbar. Deine direkte, verständliche Art, die Dinge zu erklären und beim Namen zu nennen, war mir eine riesige Hilfe. Ich wünsche dir und deiner Familie alles Liebe und dass ihr euch immer einen Tag häufiger liebhabt, als euch den Hals umdrehen zu wollen. Zwinkersmiley