Die sexuelle Exklusivität während Lockdown und Kontaktbeschränkungen lässt mich erkennen, was das jahrelange Führen einer nicht-monogamen Beziehung tatsächlich in mir bewegt hat.
Woran merke ich, dass ich in meiner festen Partnerschaft sexuell nicht exklusiv bin, wenn ich faktisch und praktisch seit Monaten unfreiwillig sexuell exklusiv bin? Seit Kontaktbeschränkungen und einer doch sehr deutlichen Ermüdung meinerseits gegenüber Online Dating Plattformen ist es ruhig geworden im Sexleben außerhalb meiner Beziehung. Ich möchte sagen, totenstill.
Und trotzdem würde ich, wenn mich jemand fragt, zu jedem Zeitpunkt sagen, dass ich mich in einer konsensuell nicht-monogamen Partnerschaft befinde. Ähnliches höre und lese ich auch immer wieder von Menschen, die sich selbst als polyamor l(i)ebend beschreiben. Auf die Frage, wie sie poly sein könnten, wenn sie doch gerade single seien, hört man Antworten wie: „Ich weiß einfach, dass ich gleichzeitig Mehrere lieben und in verantwortungsvollen Beziehungen zu ihnen stehen kann. Das hat mir die Vergangenheit gezeigt und das ist Liebe, wie ich an sie glaube und wie sie sich für mich gut anfühlt.“
Ich finde das eine legitime und gute Antwort, die ich aber selbst so nicht geben könnte. Denn diese Erfahrungen sind nicht meine und ich verstehe die Beziehung zu meinem Partner auf der „poly-Skala“ eher dem „monoamoren“ Ende zugeneigt. Unsere Nicht-Monogamie basierte bisher durchweg und ziemlich ausschließlich auf Sex, den er und ich getrennt voneinander mit Anderen haben (gemeinsam Sex mit einer weiteren Person machte für uns noch gar keinen Schritt ab vom monogamen Wege aus). Weitere Partnerschaften oder geteilte romantische Gefühle mit Dritten waren bisher nicht im Programm.
Dass dieser Sex und die Intimität oder die Abenteuer mit anderen Menschen in der aktuellen Situation (=Pandemie) weggefallen sind, ist spürbar. Es ist auch: Vernünftig, sicherer, verantwortungsvoll und selbstverständlich. Und ich vermisse es.
Ich vermisse ganz konkrete Dinge. Wie die anderen Ichs, die ich leben, und die unterschiedlichen Rollen, die ich bei anderen Partner*innen als meinem Freund einnehmen kann. Ich finde es schade, nicht die nächste Person treffen zu können, die es liebt mich auf ihre ganz eigene Art und Weise zu berühren. Oder die nächste, die mich in Hand- und Zungenumdrehen verrückt macht. Ich spüre nicht zu jedem Zeitpunkt, aber wenn, dann sehr deutlich, dass da mal etwas war, das nun nicht mehr ist. Also warum. Warum, wenn das wegfällt, halte ich an dem Gedanken und meinetwegen der Schublade fest, nicht-monogam und nicht exklusiv zu sein?
Ich denke, das hat mehrere Gründe. Über zwei sehr einflussreiche möchte ich in diesem Text sprechen, da sie zwei wichtige Aspekte darstellen, die ich vor der Öffnung unserer Beziehung nicht über mich wusste. Und unterschiedlicher hätten beide nicht auf mich wirken können.
Aspekt #1 – New Old Relationship Energy
Der erste geht Hand in Hand mit einem Effekt, der unmittelbar und heftig direkt zu Anfang der Öffnung unserer zuerst monogamen Beziehung eintrat. Warm und unfassbar aufregend traf mich die Möglichkeit wie eine alles mitreißende Flutwelle. Ich muss an dieser Stelle sagen, dass das Öffnen mir keine Angst oder Sorgen gemacht hat. Und ich denke, wenn man sich selbst nicht mindestens mehr sicher als unsicher ist, ob man diesen Schritt ausprobieren möchte, dann sind die Empfindungen zu Beginn womöglich um einiges gemischter und nicht rein positiv.
Aber was war das, was sich für mich so großartig anfühlte? Ganz simpel und ein bisschen infantil ging es dabei um die reine Möglichkeit jetzt etwas tun zu können, das mir vorher nicht erlaubt war. Und zwar, ohne dass es negative Konsequenzen für meine Partnerschaft hätte. Das Gefühl allein, dass ich jetzt an einer Stelle weniger etwas falsch machen könnte. Dass ich mich in einer bestimmten Situation nicht einschränken müsste, dass ich ein Stück weit sorgloser ich sein könnte, auch wenn das eben bedeutete auf einer Party leidenschaftlich einen fremden Menschen zu küssen, wenn mir danach war.
Da war plötzlich eine Erwartung in mir und ein Forscherdrang. Ich wollte mich ausprobieren und wie mir dieser neue Aufzug stand. Ich war neugierig auf neue Grenzen und auf das, was jenseits der alten lag. Es klingt simpel und vor dem Hintergrund des „aber du hast doch alles in einer glücklichen Beziehung“ wie eine belanglose Kleinigkeit, die man doch einfach mal opfern könnte. Glück und Zufriedenheit hätten halt ihren Preis. Bleibt nur die Frage, wie sinnvoll es ist den Preis zu zahlen, wenn Glück und Zufriedenheit auch ohne ihn anstehen können. Und nein, bisher wollte mir auch niemand einen Garantieschein ausstellen, wenn ich die Rechnung brav beglichen hatte.
Ich will nicht anmaßend sein und behaupten der Rausch der Möglichkeit sei intensiver und ergiebiger als das Gefühl von Geborgenheit und Vertrautsein, das mir eine lange committete Partnerschaft gibt. Diese Rauschwellen empfange ich auf einer ganz anderen Frequenz. Sie sind Motivator, Antriebskraft, ein starker Schub, eine vom Wind aufgestoßene Tür.
Ich denke, viele erfahren einen ähnlichen Gemütszustand nach dem Ende einer Beziehung, das guttat, auch wenn es weh tat. Der erste Schritt endgültig hinaus aus der Tür eines alten Jobs, der sich trotz allem nicht richtig angefühlt hatte. Die Aufgabe eines Projekts, das einem ans Herz, aber auch über den Kopf wuchs. Die Trennung von einem*r Partner*in, nachdem man unheimlich viel gemeinsam erlebt und durchlebt hat. Spaltendes und Schweißendes, aber über die Zeit an den falschen Stellen gespalten wurde.
Die Gleichzeitigkeit von Trauer um den Verlust der Chance und Freude über die Freiheit gegenüber neuen Möglichkeiten. Und wenn am Ende die Luft draußen vor der Tür des alten Büros so besonders frisch riecht und man einfach weiß, dass es der richtige Schritt war. Der Augenblick, in dem der Rausch und die Euphorie beginnen zu überwiegen…Jetzt bitte dieses Gefühl für einen tiefen Atemzug halten! Nicht nur wegen der meditativ-positiven Wirkung, sondern auch weil er genau hierzu vergleichbar war: Mein Möglichkeitsrausch.
Nur ohne den noch brennenden Schnitt, den eine Trennung in mir verursacht hätte. Die Reinform von Euphorie ist für mich der Gedanke, dass ich nicht verzichten, nicht vermissen und nicht zurücklassen muss, wenn ich das nicht will. Und wie selten bekommt man im Leben dazu die Gelegenheit? Bei der Öffnung unserer Beziehung war es so. Und die Druckwellen dieser Möglichkeitseruption zittern auch heute noch unterschwellig mit. Ich kann sie immer spüren, bin immer wieder daran erinnert, dass ich beides haben darf. Was mich auch schon zum zweiten Aspekt führt.
Aspekt #2 – Gönnen können
Nicht so unmittelbar und aufmerksamkeitsfordernd wie der Möglichkeitsrausch, sondern viel langkettiger und nachhaltiger wuchs in mir über die anwachsende Erfahrung mit einer konsensuell nicht-monogamen Beziehungsform die Dankbarkeit. Ich begann immer sicherer zu verstehen, dass mein Partner, trotz all unserer Unterschiede, in mindestens diesem einen Punkt unser Zusammenleben genauso verstanden und definiert hatte wie ich. Dass wir beide gleichzeitig mit- und aneinander gelernt haben, wie tief sich eine Verbindung anfühlt, die auf Empathie und einem gegenseitigen Verständnis basiert, das nicht an der Schlafzimmertür aufhört.
Es war ein simpler Einfall, das Verstehen, dass mein Partner genau wie ich auch an anderen Menschen interessiert ist. No rocketsience. Der wichtigere Punkt, den uns erst die Praxis einer nicht-monogamen Beziehung zeigte, war, dass dieses Interesse an Intimität mit anderen kein Zeichen mangelnder Liebe ist und kein Grund einander zu verlassen. Zugegeben, das hat einen großen Vertrauensvorschuss benötigt. Aber der stützte sich in unserem Fall auf fast 3 Jahre monogamer Partnerschaft und dem fortgeschrittenen Aufbau eines gemeinsamen Lebens. Alles immer noch kein Garantieschein, ich weiß. Aus diesem Grund bin ich heute umso dankbarer.
Was ist das konkret, wofür ich meinem Partner an dieser Stelle aus vollem Herzen danken möchte? Was genau hat sich für mich zum Besseren verändert? Zuerst einmal bin ich ihm dankbar für sein Vertrauen und seine Geduld, die ich zu jedem Zeitpunkt spüren kann. Ob ich die Möglichkeiten unserer offenen Beziehung in Anspruch nehme oder nicht. Mehr noch bin ich ihm als Person dankbar, aber auch uns gemeinsam als Paar, dass wir den Antrieb hatten uns gegenseitig eine Freiheit zur Entfaltung zu schenken, die über das so Offensichtliche in konsensueller Nicht-Monogamie hinaus geht.
Das Offensichtliche ist die Bettkante anderer Leute. Der Rest des Eisbergs ist Freude dabei empfinden zu können, die:den andere:n in Situationen, Hobbies und Projekten aufgehen zu sehen, an denen man selbst kaum oder gar nicht teilhat. Die letzten Jahre haben mir beigebracht neben einem erstrahlenden Partner nicht zu schrumpfen. Mich nicht zu vergleichen und innerlich klein zu machen, neben dem, was ihn gerade zum Aufblühen bringt.
Natürlich empfinde ich Freude und Stolz, wenn ich Mitwirkende an oder Auslöserin von seinem Glück bin. Und ich habe auch gelernt, dass es nichts (negatives) über mich sagt, wenn ich es nicht bin, sondern andere Menschen oder Aktivitäten, die ihn erfüllen. Das ist für mich einer der größten Unterschiede zu „vorher“. Zur Zeit unseres monogamen Anfangs und zur Zeit meiner vergangenen monogamen Partnerschaften.
Es nicht mehr als Ausgrenzung und persönlichen Verlust zu erleben, wenn – ganz platt gesagt – mein Partner ohne mich Spaß hat. Das war natürlich nicht immer ein gleichwertig negatives Gefühl, aber immer die tiefste Wurzel meiner persönlichen Eifersucht und das ist sie noch bis heute. Nur eben nicht mehr (es gibt selten gewordene Ausnahmen) in Bezug auf meinen Partner.
Einem geschenkten Gaul…
Diese Erfahrung hat noch eine andere Seite: Und zwar, dass mein Partner diese Entfaltungsfreiheit auch zurückspiegeln kann, ohne dass ich es als Desinteresse seinerseits an mir interpretiere. Dass er mir diese Einsicht ermöglicht hat, kam einer riesigen Erleichterung gleich. Ich weiß jetzt, ich muss nicht angespannt darauf lauschen, ob er sich nicht doch vernachlässigt fühlt, wenn ich ohne ihn in den Urlaub fahre. Wenn ich den ganzen Tag mit Lesen und Schreiben verbringe, obwohl ich auch etwas mit ihm unternehmen könnte. Und ja, auch wenn ich mich verabschiede, um die Nacht mit einem anderen Menschen zu verbringen.
Ich kann immer noch nachvollziehen, warum ich früher fehlende Eifersucht als Gleichgültigkeit verstehen und es deshalb übelnehmen wollte. Durch meine erste nicht-monogame Beziehung habe ich gelernt, dass ich eine geschenkte Freiheit auch einfach mal genau als solche annehmen darf, dass es sich nicht immer um eine erkämpfte oder erkaufte Freiheit handeln muss, wenn Liebe im Spiel ist.
Ich bin unendlich froh darüber, dass unsere Praxis mir gezeigt hat, dass wir uns gleichzeitig lieben und unser eigener Mensch sein können. Und diese Erkenntnis erstreckt sich über so viele Bereiche meines Lebens, dass sie auch dann spürbare Auswirkungen hat, wenn ich so wie jetzt gerade sexuell exklusiv lebe.
Mindestens so viele Wege wie Ziele
Ich behaupte auf keinen Fall, dass man seine Partnerschaft erst mindestens sexuell für Dritte öffnen muss, um diese Erfahrung zu machen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass das auch auf anderem Wege funktioniert. Ich habe hier von meinem berichtet und weshalb mir die Auseinandersetzung mit einer Alternative zur Monogamie nachhaltige, tiefe Entwicklungen ermöglicht hat.
Allein schon wegen dieser friedlichen und gütigen Einstellung gegenüber meinem Partner, die ich unbedingt beibehalten möchte, bezeichne ich mich auch in Zeiten von Kontaktbeschränkungen und sexueller Exklusivität als nicht-monogam lebend. Denn ich möchte absolut nicht missen, was dieser Schritt aus und mit uns gemacht hat. Wahrscheinlich ist einer der anderen Wege zum selben Ziel der bessere oder durchführbarere für viele andere Menschen. Aber anstrengend und herausfordernd sind sie alle. Da kann man sich along the way auch mal ne Pause in einem anderen Bett gönnen. Zwinkersmiley
Alles mehr oder weniger schön und gut, aber du hast allgemeine Fragen zu der ganzen (nicht) Exklusivität? Ich habe die häufigsten und ein paar für mich interessante in einem zweiteiligen FAQ beantwortet. Hier geht’s zu den ersten 5 und hier zu weiteren 8 Fragen und Antworten.