„Hahaha! DU willst Carrie Bradshaw sein?! Ich lach mich tot, ihr habt ja mal so gar nichts gemeinsam!“ spottet meine Schulbusfreundin auf dem Weg nach Hause. Ich bin verwirrt und schäme mich ein bisschen, weil ich „Sex and the City“ nicht kenne und offenbar nicht weiß, was für einen grotesken Fehler ich gerade gemacht habe. Die Mädchen, die um mich herum im Bus saßen, hatten angefangen für das Spiel auf der Busfahrt Rollen zu verteilen. Ich nannte den einzigen Namen aus dieser Fernsehserie, den ich kannte, froh, in der Lage zu sein so zu tun, als würde ich mitreden können. Außerdem fängt mein Vorname auch mit „C“ an.
Dass die Namensähnlichkeit so ungefähr meine einzige Gemeinsamkeit mit der Figur einer erfolgreichen, stylischen und begehrenswerten Autorin aus der Großstadt war, wurde mir anhand der empörten Reaktion meiner Freundin unmissverständlich klar gemacht. Ihr höhnisches Lachen und der abschätzige Blick, mit dem sie mich von oben bis unten musterte, sagten: Eine bebrillte, dicke Zwölfjährige aus der Vorstadt sollte sich mal lieber zurückhalten, wenn es darum ging, sich irgendwo als Protagonistin aufspielen zu wollen. Oder wie man heute sagen würde, bei mir war nicht genug main character energy vorhanden.
Die Scham drückte mich tief in meinen Bussitz und raus aus dem gemeinsamen Rollenspiel. Ich war überzeugt, dass meine Sitznachbarin Recht hatte. Damit man irgendwo die Hauptrolle spielen durfte, musste man sich auch irgendwie dafür qualifizieren. Im Fall von Carrie Bradshaw oder ungefähr allen anderen weiblich präsentierten Hauptfiguren der frühen 2000er Jahre lief die Legitimation über ein makelloses Äußeres, das jede Menge männliche Verehrer genauso auf den Plan rief wie die treu ergebene Gruppe von Anhängerinnen, um deren Gunst und Freundinnenschaft sich nie bemüht werden musste. Und ganz ehrlich, das war nicht meine Lebensrealität – weder in der Schulzeit noch danach.
Für den main character fällt das Talent vom Himmel
Außerdem war ich in der Schulzeit noch niemand. In dem Sinne, dass ich bei weitem noch nicht wusste, wie ich drauf war, also wie meine Persönlichkeit sich auszeichnete. Ich konnte meine Rolle nicht genauer definieren, sie durch kein bestimmtes Hobby oder Talent näher beschreiben. Ein Talent oder anderes Merkmal, das es aber offensichtlich brauchte, um sozial sichtbar zu werden. Sichtbar und vorzeigbar als Hauptfigur, die sich durch ihre Begabung den Platz auf der Bühne verdient hat.
Wenn es um dieses Talent geht, wird allerdings nie näher beschrieben, wie der main character es erhalten hat. So gut wie nie wird der Weg des Trainings, Übens, Scheiterns dargestellt, das dem besonderen Können vorausgegangen sein muss. Alle Protagonist*innen schienen talentierte Sportler*innen, Sänger*innen, Autor*innen oder einfach dünn und schön von Gottes Gnaden zu sein. Sexy und bewundernswert vom Himmel gefallen, den Sprung 1A gestanden und direkt beklatscht gelandet. Ich hingegen konnte nichts oder war niemand Bewundernswertes und bekam das auch zurückgespiegelt. Dass der innere Monolog in meinem Kopf, den ich mit der Musik aus meinem mp3-Player untermalte, nicht ausreichte, um mich als main character zu verstehen. Also blieb ich eben still und spielte stattdessen die Rolle des braven Mädchens.
Außerdem wurde es belohnt, wenn ich mich bescheiden im Hintergrund hielt, das brave Mädchen gab. Ganz im Gegenteil dazu, wenn ich mich spielerisch als Carrie Bradshaw ausprobieren wollte. Man akzeptierte und belohnte mich, wenn ich ruhig war und gehorchte. War ich eine angenehme Schülerin, wurde ich dafür nicht nur nicht bestraft, sondern auch in den Schulfächern mit Milde behandelt und benotet, die mir absolut nicht lagen. Nicht negativ auffallen, am besten überhaupt nicht auffallen, brachte mich auch sicher durch unangenehme Begegnungen mit Bullies. Andere Menschen in den Öffis, im Kino oder im Supermarkt nicht zu stören, schützte mich vor Konflikten und nichts war in meinem Leben wichtiger geworden, als den Kopf einzuziehen.
Kein Versteckspiel mehr
Allerdings passierte mir dann eine wirklich unpraktische Sache: Ich wurde ungewöhnlich groß für eine Frau. Mein Körper wuchs vor allem in die Höhe, aber auch an bestimmten Stellen in die Breite, sodass es mir buchstäblich mehr und mehr Arbeit machte, den Kopf einzuziehen, um unsichtbar zu werden. Es war erstaunlich, wie unterschiedlich mein Körper und mein Verstand sich verhielten. Während mein Körper unaufhaltsam mehr Raum einnahm, wurde mein Denken deswegen durch Scham und Schuldgefühle eingeengt. Wieso musste mein Körper mich plötzlich in die Wahrnehmbarkeit und damit in die Räume anderer Menschen hineinzwingen?
Ich bekam das Gefühl, allein durch meine Anwesenheit den Raum und die Souveränität meiner Mitmenschen einzuschränken und zu verletzen. Und ich bin dieses Gefühl bis heute nicht mehr losgeworden. Es wird mir bewusst jedes Mal, wenn ich in fremden Städten U-Bahn fahre und mich dabei auf einen Platz setze, der in meinen Augen für eine*n Bewohner*in dieser Stadt gedacht ist. Oder wenn ich öffentlichen Raum nutze, um etwas Neues zu lernen. Etwas in der Öffentlichkeit zu tun, das ich nicht gut kann, ist mir nicht aus dem Grund unangenehm, weil mir andere Leute beim Scheitern zusehen können. Sondern weil ich Raum für mein Scheitern beanspruche, den andere, talentiertere Menschen für ihren Erfolg nutzen könnten.
Achtung, hier komm ICH
Vor einigen Wochen war ich in München und stand zum ersten Mal auf der Brücke an der Eisbachwelle. Es war kein warmer Tag und es regnete und trotzdem waren einige Surfer*innen vor Ort, die nacheinander ihr Board in den schmalen Fluss warfen, um auf dem künstlichen Wellengang zu reiten. Das Wasser im engen Flussbett reißt schnell und es bietet nur Platz, um eine einzelne Person surfen zu lassen. Ich sah unterhalten und erstaunt zu, wie Surfer*innen unterschiedlichster Skilllevels sich nacheinander in die schmale Flut warfen. Manche schnitten mühelos durch die Wellen und jagten zwischen den Ufern hin und her. Andere konnten sich kaum auf dem Brett halten, bevor sie bald wieder ins Wasser stürzten, um etwas später ein Stück flussabwärts wieder aufzutauchen.
Noch mehr beeindruckt als von den krassen Fähigkeiten der Anwesenden war ich von der Furchtlosigkeit der Anfänger*innen, die sich trauten die Eisbachwelle ganz für sich alleine zu beanspruchen. Für ihre mehr schlechten als rechten Versuche auf ihrem Board die Wellen zu stehen. Dass sie sich trauten, sich den Raum zu nehmen, obwohl sie ihre Fähigkeiten erst einmal ausbilden mussten, war für mich unnachvollziehbar und führte mir vor Augen wie gehemmt ich war. Wie sehr daran gewöhnt, dass Talent eine Voraussetzung für main character energy war, ohne dass man dafür sichtbar arbeiten durfte.
Ein klassischer catch 22, der mir erst vor wenigen Tagen wieder begegnete, als ich mich auf dem Tempelhofer Feld mit einem liebenswürdigen und geduldigen Menschen traf, der mir Unterricht im Longboard fahren gab. Dazu muss ich erwähnen, dass ich wirklich blutige Anfängerin in dieser Angelegenheit bin. Bevor ich 30 Jahre alt wurde, stand ich meinem ganzen Leben noch nicht auf einem derartigen rollenden Untersatz, weshalb mein Training sich vor allem auf einen Ringkampf mit meinem Gleichgewicht beschränkte. Dazu kamen die Angst vor dem „zu schnellen“ fahren und meine Unfähigkeit Hindernisse jeglicher Art zu umkurven.
Diese Hindernisse bestanden hauptsächlich aus anderen Skater*innen, die das Tempelhofer Feld zu sehr vielen auf ihren Boards, Rollschuhen oder Inlineskates bevölkern. Und ich fuhr mitten durch ihre Masse hindurch, während ich nicht nur mit meiner Balance kämpfte, sondern auch mit dem Unbehagen, dass ich mir rausnahm, den anderen Anwesenden hier wortwörtlich durch die Parade zu fahren. Die anderen Anwesenden, die alle viel talentierter umherrollten und deshalb in meinen Augen viel mehr Recht besaßen, sich die asphaltige Spielwiese zu eigen zu machen.
Die Erfahrung war anstrengend und schön zugleich. Anstrengend waren die körperliche Betätigung und mein konstantes Ankämpfen gegen das Unbehagen. Schön war die gemeinsam verbrachte Zeit und das Entdecken meiner eigenen Fortschritte, während ich umgeben von so vielen talentierten Menschen war, deren rollende Eleganz sie extrem fest verankert in den Hauptrollen ihres eigenen Lebens wirken ließ.
Als ich meinem Lehrer zu erklären versuchte, dass ich Angst hatte, andere Menschen durch meine Fahrfehler und die mangelnde Kontrolle über das Board zu stören, einzuschränken oder sogar zu gefährden, attestierte dieser mir selbstbewusst, dass ich mir einfach etwas mehr main character energy draufschaffen müsse. Und ja, wahrscheinlich würde es mir leichter fallen, mich in unbekannte Bereiche vorzuwagen, wenn ich unter dem Eindruck leben würde, die Welt drehe sich vor allem für und um mich selbst.
Aber es ist auch nicht so, als wäre mein main character energy-Level noch auf demselben Stand wie bei meinem zwölfjährigen Ich. In den knapp 20 Jahren, die seit diesem peinlichen Erlebnis im Schulbus vergangen sind, habe ich mich bewusst und unbewusst an Vorbildern und Klischees orientiert, die allesamt die Werte „Individualismus“ und „Unabhängigkeit“ vor sich hertrugen. Zwei Aspekte, die ich als ziemlich grundlegend für main character energy empfinde und die seit langem immer stärkere Grundpfeiler meines eigenen Wertesystems bildeten. Und das hat mein Leben deutlich verändert.
Außen Bradshaw, innen brav?
Kürzlich fand ich mich gemeinsam mit zwei Freundinnen an einem fancy dinner table in Südfrankreich wieder und nachdem wir uns alle gegenseitig über unsere Leben auf den neusten Stand gebracht hatten, sagte die eine zu mir: „Wow, du lebst allein in einer schönen Wohnung mitten in Berlin, schreibst Bücher und Zeitungsartikel über Sex und Liebe, hast einen gut bezahlten Job und siehst toll aus! Ganz wie Carrie Bradshaw!“
Ach, da war er wieder, der gute alte „Sex and the City“-Vergleich, und ließ mich sofort zurück an meine Schulzeit denken. Genugtuung und Stolz stiegen mein Gesicht hoch. Und mit ihnen die leise bittere Gewissheit, dass mir selbst total entgangen war, wie ich meine fremdgesteckten Ziele erreichte, ohne dabei je zufriedener zu werden. Ohne je die Selbstsicherheit zu fühlen, die mit dieser main character energy einhergehen sollte, die man mir gerade bescheinigt hatte. Innerlich blieb mir nur die altbekannte Angst vor Sichtbarkeit und unverdienter Beanspruchung von Platz in dieser Gesellschaft. Ich war kein Stück größer geworden, als ich über mich hinausgewachsen war.
Ich fühlte mich betrogen. Ich hatte brav alles gemacht, was man mir sagte, um zu werden, wie ich zu sein wollen sollte. Aber wozu hat es geführt? Zu dem konstanten Gefühl, mich für meinen Platz rechtfertigen zu müssen, keine Fehler machen zu können, um meine Legitimation nicht zu verlieren. Dabei bin ich so massiv mit Privilegien ausgestattet, dass ich per Definition fast nur „nach oben“ scheitern kann. Also, main character energy – was soll das?
Und jetzt?
Hat das Individualisieren in unsere kleinen Single-Wohnungen und Kernfamilien-Leben nicht bloß zum Ergebnis, dass wir zu Einzelkämpfer*innen werden? Dabei will ich lieber ein Knoten im Netzwerk sein, keine einsame Schreibtischheldin mit Blick über eine vereinzelte Gesellschaft. Ich will, dass die Hauptfigur keine Rolle mehr spielt, dass wir die Ellenbogen einfahren, dass wir „Lean aneinander“ anstatt „Lean In“ als Motto an unsere Küchenwände tätowieren und verstehen, was der main character noch nie kapiert hat. Nämlich, dass er das alles hier nicht als einziger erlebt. Dass millionen andere Menschen um ihn herum dasselbe fühlen.
Individualität führt nicht zu mehr Identität. Wenn das so wäre, müssten wir uns so stark voneinander abgrenzen, dass es Scheibe für Scheibe von uns abträgt, bis wir hauchdünn und transparent sind. Oder gar nicht mehr vorhanden. Die Zukunft des Miteinanders liegt nicht in Individualität und auch nicht in one size fits all-Rollenbildern. Sie liegt nicht in Singlehaushalten und auch nicht in einer zwar mehrgenerationellen, aber trotzdem nachnamensgleichen Kernfamilie.
Die Zukunft kann nämlich nicht nur auf den Schultern einzelner stehen. Dass das so nicht gut geht, obwohl wir es „immer“ schon so gemacht haben, sehen wir an den ganzen eingeknickten Müttern, gebeugten Großmüttern und gebrochenen Einzelkämpfern, die ihre Hauptrolle in der Familie oder der Firma gespielt haben, bis die Bühne unter ihren Füßen, unter der Last der ganzen Zukunft auf ihren Schultern einbrach. Die ganzen einsamen main character in diesem Stück von der Stange, dessen Regisseur, Maske und Publikum auf sie scheißen.
An dieser Stelle eine Leseempfehlung für die Buchreihe „Unlearn Patriarchy„ – Im Kontext dieses Textes vor allem für die Artikel „unlearn Identität“ von Madeleine Alizadeh und „unlearn Familie“ von Teresa Bücker aus Band #1.