Mir war schon immer klar, dass ich früh, also vor 30, auf keinen Fall Kinder kriegen würde – ob Kinderwunsch oder nicht. Vor 30 muss es noch nicht ernst werden. Vor 30 muss ich mich fertig ausbilden, einen Job und die Liebe finden und mich in beidem über viele Jahre ausprobieren. Das hat mir das mittelständisch-akademische Umfeld, in dem ich groß geworden bin, vorgelebt. Ab der großen Drei verschiebt sich dann der Fokus einer Frau am besten möglichst schnell auf die Familiengründung. Aber vorher, also mit Anfang oder Mitte 20, Kinder zu bekommen, das galt höchstens als ungeplantes Babyglück.
Erst ab 30 Kinder zu bekommen ist heute gar nicht selten. Ob bedingt durch unsichere Lebensumstände wie die Abwesenheit von stabilen Arbeitsverträgen, genügend bezahlbarem Wohnraum oder der passenden Partnerschaft. Oder, ob schlichtweg die Einstellung den Zeitpunkt der Familiengründung verzögert, lässt sich in der Statistik nicht unterscheiden. Aber die Zahlen zeigen einen konstanten Anstieg des Alters von Erstgebärenden. Allein zwischen 2010 und 2020 erhöhte sich das Alter von Müttern in Deutschland im Durchschnitt um ein Jahr (von 29,0 auf 30,2 Jahre). Dieser Trend kann in ähnlichen Ausmaßen sogar europaweit beobachtet werden und betrifft nicht nur Mütter. Auch die Väter sind zwischen 1991 und 2021 zum Zeitpunkt der Geburten ihrer ersten Kinder stetig älter geworden.
Dieser Trend bedeutet allerdings nicht, dass Frauen in Deutschland nicht auch in jüngeren Jahren Mütter werden – und das sogar mit Absicht. Was mir immer stark romantisiert vorkam, ist für zwei Frauen, mit denen ich für diesen Artikel gesprochen habe, sehr real: Seit ihrer Kindheit hatten beide den Wunsch, einmal Mutter zu werden, lieber früher als später. Jamila Mewes (37) ist Paartherapeutin in Berlin und konnte sich diesen Wunsch gemeinsam mit ihrem Mann bereits im Alter von 25 Jahren erfüllen. Sabine (Name für diesen Artikel geändert) ist heute 28 Jahre alt und hat keine Kinder, obwohl sie bereits mit 23 schwanger wurde. Wieso sie sich trotz frühem Kinderwunsch für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat und welche Auswirkung das auf ihre weitere Familienplanung hatte, hat sie mir im Interview erklärt.
Aber nicht nur Frauen finden es ideal, schon in jungen Jahren Kinder zu bekommen. Auch immer mehr männliche Stimmen widersprechen dem Klischee des verantwortungsscheuen Junggesellen, der sich am liebsten erst so spät wie möglich und nur auf Druck der Partnerin mit seiner Familienplanung auseinandersetzt. Jo Dietrich, 26 Jahre alt, Mitgründer eines Beratungsunternehmens und Autor, ist bereits Vater von zwei Kindern. Er hat mir davon berichtet, wie es dazu kam, dass er und seine Partnerin in Sachen Kinderkriegen so gar nicht mit dem Strom ihrer Generation schwimmen.
Mich interessiert, was meine drei Gesprächspartner*innen motiviert hat, früh Eltern werden zu wollen. Ich möchte wissen, woraus sie die Entschlossenheit zogen, die mir fehlt. Was unterscheidet uns voneinander?
Jo Dietrich wollte schon sehr früh grundsätzlich Vater werden. Viel Zeit in andere Menschen zu investieren war sein Alltag, weshalb er dachte, es “wäre doch das Schönste, das auch mit eigenen Kindern zu tun.” Sein Kinderwunsch wurde wirklich konkret, als er mit Anfang 20 seine Partnerin kennenlernte. Für ihn gab also die “richtige Person” den Ausschlag. Als sich ein Jahr nach Beginn der Beziehung das erste Kind ankündigte, sei Dietrich noch im Studium gewesen: “Wir hatten zudem ein paar Monate zuvor erst eine Firma gegründet. Die Umstände waren trotzdem passend.” Er bilanziert, mit 24 Jahren zum ersten Mal Vater zu werden und zwei Jahre später erneut, das sei im Vergleich zu anderen Männern seiner Generation sehr früh gewesen.
MIt dieser Einschätzung liegt Dietrich richtig, denn er und seine Partnerin gehören der “Generation Z” an (geboren zwischen 1997 und 2012). Für die “Gen Z” ist es eher untypisch, als Paar mit Anfang und MItte 20 bereits mit dem Studium fertig zu sein und sowohl eine Firma als auch eine vierköpfige Familie gegründet zu haben.
Darin liegt für Dietrich einer der Hauptgründe, wieso die Menschen in der Schweiz, wo er selbst lebt, aber auch in Deutschland und Europa immer später Eltern werden: “Der Druck, Karriere zu machen, ist extrem groß.” Die Leute hätten Angst, Lebensziele zu verfehlen, die sie bei anderen auf Social Media beobachten könnten. “Ich kenne viele, die sagen, sie hätten eigentlich gerne früh Kinder – Männer wie Frauen – aber sie sind halt noch nicht da, wo sie für ihre Kinder sein wollen.”
Jo Dietrich hatte viele dieser Ziele – abgeschlossenes Studium, steiler Karrierebeginn und erfolgreiche Partnersuche – schon erreicht oder bereits in greifbarer Nähe, als er Vater wurde. Sein Leben ist sicherlich eine Ausnahme, die er und seine Partnerin auf Social Media sichtbar machen. Womit sie entweder zum Erhalt des von Dietrich selbst beschriebenen Erwartungsdrucks beitragen oder andere motivieren, dieselben Ziele zu erreichen. Eine Frage der Perspektive.
Ich befand mich zum Ende meiner Zwanziger in einer ähnlichen Situation wie Dietrich. Alles schien stabil, meine Partnerschaft, meine Karriere, meine finanzielle Situation. Meinen Kinderwunsch hat das allerdings nicht positiv beeinflusst. Auch in einer stimmigen Gesamtsituation stand ich dem Kinderkriegen weiterhin unsicher gegenüber.
Die unbequeme Realität ihrer Gesamtsituation war es aber, die meine zweite Gesprächspartnerin Sabine dazu veranlasste, sich trotz ihres Kinderwunschs für eine Abtreibung zu entscheiden. Als sie mit 23 Jahren schwanger wurde, machte sie sich zum ersten Mal bewusst, woher eigentlich ihr Wunsch kam, früh Mutter zu werden. Sie erzählt, dass ihr gesamtes Umfeld geprägt war von “heteronormativen Beziehungen mit sehr starker Verbindlichkeit.” Das heißt, in ihrer Peer Group hat man sich früh festgelegt, jung geheiratet und ohne Ausnahme Kinder bekommen. Nur die Gründung der eigenen Kernfamilie schafft die Möglichkeit dazuzugehören, so Sabines Sorge.
Ihre Schwangerschaft zwang Sabine dazu, ihre Hoffnung, endlich Teil der Gemeinschaft zu werden, mit ihrer Realität abzugleichen. Diese Realität war, dass sie alleinerziehend und ohne abgeschlossene Ausbildung in ihr neues Leben starten würde. Sabine erkannte, dass sie dadurch weder Zugehörigkeit noch eine bessere Zukunft finden würde. Stattdessen sah sie die Gefahr, alte Muster aus ihrer Ursprungsfamilie zu wiederholen. ”Vielleicht ist es nicht die Lösung allen Übels, auf Biegen und Brechen selbst eine Familie zu gründen,” reflektiert sie in unserem Gespräch. Ihr Kinderwunsch sei noch da, aber der Druck sei einem neuen Bewusstsein gewichen. Wann und unter welchen Lebensumständen sie einmal Mutter werden wolle, orientiere sich heute an ihren eigenen Vorstellungen und nicht mehr am Leben der anderen.
Ich finde mich in Sabines ursprünglichen Beweggründen nicht wieder. Mein Umfeld vermittelt mir nicht den Eindruck, dass ich ohne Kernfamilie kein Teil einer Gemeinschaft sein könnte. Dazu habe ich (noch?) zu viele Freund*innen ohne Kinder. Der Impuls jedoch, die eigene Motivation zur Mutterschaft zu hinterfragen, ist etwas, das ich gut nachvollziehen kann und dem auch Jamila Mewes zustimmen würde. Allerdings erst nachdem sie im Alter von 25 bis 31 Jahren mit ihrem Mann drei Kinder bekommen und mehrere Fehlgeburten durchlitten hatte.
Seit ihrer frühesten Kindheit wünschte Mewes sich viele Kinder. Das sei ihr ganz klares Ziel gewesen, erzählt sie mir. Dass sie sich als kleines Mädchen liebevoll und intensiv um ihre Puppen gekümmert hat, versteht sie nicht – so wie Sabine – in ihrer Sozialisierung begründet. Im Gegenteil entstand Mewes Motivation aus einem inneren Mangel heraus: “Ich glaube, dass ich schon von klein auf etwas leben wollte, das ich selbst nicht hatte,” räsoniert die Paartherapeutin während unseres Gesprächs: “Und zwar Fürsorge.”
In ihrer Vorstellung ließ ihre eigene Familie “endlich alles gut werden”. Auf die Erfüllung dieses Traums wollte Mewes weder lange warten, noch ließen ihr Mann und sie sich von Rückschlägen aufhalten: “Jetzt blicke ich zurück und frage mich ganz oft, warum wir uns nicht mehr Zeit gelassen haben? Wieso haben wir so schnell so viele Kinder gekriegt? Es war unfassbar anstrengend!” Mewes Schwangerschaften und Geburten seien beschwerlich gewesen, die Stillzeit habe sie nicht genossen und auch für die Verarbeitung der Verluste durch ihre Fehlgeburten habe sie sich nur wenig Raum gelassen. “Ich hatte das starke Bedürfnis, etwas in mir zu füllen, das meinem inneren Kind fehlte. Ich glaube, ich habe mein Bedürfnis nach Fürsorge mit einem Kinderwunsch verwechselt,” zieht sie ihr Fazit.
Nach dem Gespräch mit Mewes bin ich aufgekratzt. Anstelle das Vorhandensein des eigenen Kinderwunschs zu hinterfragen, empfiehlt sie, dem Warum auf den Grund zu gehen: Warum könnte ich Kinder haben wollen? Wieso sehe ich mich selbst nicht als Mutter? Ich kann spüren, dass hierin Antworten liegen, die mich weiterbringen können.
Es scheint naheliegend, dass meine Unsicherheit mit dem frühen Verlust meiner eigenen Mutter zu tun haben könnte. Denn ich bin ohne ein Bild von Mutterschaft groß geworden. Woran konnten sich andere Frauen orientieren, die Mütter geworden sind, ohne selbst eine Mutter zu haben? Birgt diese Vorbildlosigkeit die Freiheit, den eigenen Weg zu finden? Oder ist ganz im Gegenteil die Verunsicherung so groß, dass das motherless child aus Angst vor Fehlern zur neurotischen Übermutter mutiert? Diesen Fragen gehe ich im nächsten Text auf den Grund.