An einem Mittwochmorgen im September bin ich gerade dabei, das Haus zu verlassen. Ich sammle die Dinge ein, die ich brauche – Rucksack, Handy, Thermobecher – und schlüpfe in die Schuhe. Bevor ich meine Wohnungstür aufschließe, werfe ich noch einen letzten Blick auf das Bild, das ich gerade im Wandspiegel abgebe. Und da fällt es mir auf: Der Rucksack über meiner Schulter, der Thermobecher mit Tee in meiner Hand und die Details auf meinen Sneakers – alles rosafarben (dramatische Musik). Sogar pastellrosafarben (dramatische Musik intensiviert sich).
Dann huscht dieser bestimmte Ausdruck über mein Gesicht. Ich beobachte Erschrecken und, ja, Verachtung. Der missbilligende Gesichtsausdruck meines inneren Cool Girls. „Oha, es gibt dich doch noch“, denke ich. „Lange nicht gesehen, noch länger nicht bewusst ausgetauscht haben wir uns. Ich dachte, ich wäre dich losgeworden.“
Das Cool Girl in der Feministin
Im Rückblick auf meine Teenager-Zeit kann ich eins sicher sagen: Ich habe streng nach den Prinzipien des Cool Girls gelebt. Ich behaupte nicht, dass ich selbst eins gewesen bin, wenn ich mich heute mit der schwammigen Definition aus der Popkultur vergleiche: Ich war nie der beste Freund eines jeden Mannes, nie kumpeliger als alle Kumpels und gleichzeitig äußerlich das smoking hot babe. Aber ich wollte unbedingt so sein. Das Mädchen, das cooler ist als die anderen Mädchen, weil es chill ist und nie Stress macht. Weil es praktisch keine anderen Bedürfnisse hat als der Boy, mit dem sie gerade casual ins Bett geht. Sogar weniger als er.
Das Girl, für das dieser Boy zwar auch nie Gefühle entwickeln wird, aber das er im Gegensatz zu den Girly Girls wenigstens nach dem Sex noch auf’n Bier mit den Jungs mitnimmt. Ganz einfach, weil „die ist korrekt, bro!“
Auch wenn ich nie wirklich verkörpert habe, wofür das Cool Girl steht, habe ich mein Lebensregelwerk trotzdem nach dem Erreichen dieses Archetyps ausgerichtet. Das bedeutet vor allem, dass ich von ebenjenen Mädchen, die sich sehr girly gaben, und allem, was sie ausmachte, so viel Abstand hielt wie möglich. Ich trug, kaufte, besaß oder verschenkte also nie, niemals Dinge in pink oder rosa. Glitzernde Gegenstände, Blümchenmuster oder Plüsch lösten bei mir schlecht gespielten Brechreiz aus.
Mein Musikgeschmack, meine Kleidung, mein selten vorhandenes Make-up und meine Hobbies – nichts durfte zu sehr traditionell „weiblich“ kodiert sein. Das alles, um hoffentlich von den Jungs um mich herum den Cool Girl-Orden verliehen zu bekommen.
Nicht falsch verstehen, ich mochte meine Hobbies und die Musik, die ich täglich hörte, tatsächlich auch sehr gerne. Ich bin mit großer Begeisterung auf Metallfestivals gefahren, habe angefangen regelmäßig Gewichte im Fitnessstudio zu bewegen und verbrachte so manches Winterwochenende auf Auswärtsfahrten oder in der Heimarena meines favorisierten Eishockeyvereins. Hauptsächlich in Begleitung von Männern und viel Alkohol. Denn das war nicht nur, was ich gerne unternahm, sondern auch, was mein inneres Cool Girl als Freizeitbeschäftigungen durchgehen ließ. Aus dem einfachen Grund, weil sie nicht mädchenhaft waren.
Heute kann ich gar nicht mehr sagen, welche Aspekte meiner Lebensgestaltung mir vielleicht gar nicht wirklich gefallen haben und in welchem Ausmaß ich die Cool Girl-Prinzipien über die Zeit als meinen persönlichen Geschmack verinnerlicht habe. Jedenfalls kann ich auch heute noch Auswirkungen auf meine Präferenzen spüren. Vor allem auf die Dinge, die ich geringschätze.
La vie en rose – Der Look meiner Emanzipation
Wer hätte gedacht, dass es sich einmal für mich wie die erwachsene Entscheidung anfühlen würde, mir Dinge zuzugestehen, die ich mit kleinen Mädchen assoziiere? Aber ja, genauso fühlt es sich an, wenn ich wie beim Schreiben dieses Textes ein altrosafarbenes Nicki-Oberteil trage. Oder wenn ich eine extra Portion Glitzer in mein Make-up für den Abend integriere.
Allerdings fühlt es sich nicht so an, als würde ich etwas nachholen. Etwas, das ich mich zum angebrachten Zeitpunkt in meinem Leben nicht getraut habe. Nein, es fühlt sich an, als wären ein pinker Rucksack und Thermobecher oder Handtaschen in Pastelltönen ein alters- und geschlechtsloses Vergnügen, das ich mir endlich selbst erlaube. Das ich mir endlich nicht mehr vorenthalte, um nicht von der Zielgruppe verstoßen zu werden, von der ich so dringend als „so gut wie sie“ akzeptiert werden wollte: Männer.
Denn das ist der eigentliche Grund für ein angestrebtes Dasein als Cool Girl. Sie möchte akzeptiert werden als wenigstens geduldetes Mitglied des männlichen Teils unserer Gesellschaft. Das Cool Girl sein zu wollen bedeutet, verzweifelt nicht mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht werden zu wollen, weil man sie als weniger wert betrachtet als Männlichkeit (und etwas abseits dieser Binarität existiert in diesem Weltbild eh nicht). Was dabei wichtig ist zu unterscheiden: Nicht die Präferenzen des Cool Girls an sich sind misogyn, sondern die Tatsache, dass sie durch die Ablehnung von allem, was weiblich kodiert ist, entstehen.
„Kodiert“ ist hierbei ebenfalls ein gutes Stichwort: Nicht nur habe ich mittlerweile verstanden, dass es problematisch ist, wenn ich Femininität ablehne, weil ich sie als an sich wertlos betrachte. Sondern auch, dass es total unnötig ist, Gegenstände, Tätigkeiten oder sogar Farben eine inhärente Geschlechtlichkeit anzudichten, die gar keinen Anker in der Wirklichkeit hat. Pink ist nicht gleich „weiblich“. Es gibt keine real existierende Verbindung zwischen Dingen und dem Konzept von Geschlecht. Wir haben das gesellschaftlich festgelegt, nur um uns gegenseitig daran zu messen. Und um uns damit gegenseitig auf- oder abzuwerten.
Cool, cooler, Cold Girl
Den Wenigsten werden Misogynie und die Geschlechterordnung dieser Art fremd sein. Schließlich gibt es nicht nur den Cool Girl Archetyp, sondern noch einige andere. Praktisch für alle ist was dabei. Mich interessiert neben der Kritik an diesem Phänomen auch, aus welchen Gründen einzelne Person ihre Archetyp-Auswahl treffen. Die Wahl zwischen dem Cool Girl Archetyp, der hilfsbedürftigen Lolita oder dem überkompensierenden Pick Me Girl.
Ich vermute, es hat mit der Einstellung zu den eigenen Bedürfnissen zu tun und damit, ob man sich mehr mit der Bedürfnis ablehnenden oder der Bedürfnis erfüllenden Rolle identifizieren kann. Aber eins ist klar: In allen Fällen schauspielt man eine Rolle. Das Einzige, was keine Rolle spielen darf, sind die eigenen (tatsächlichen) Bedürfnisse.
Nicht auf die Hilfe, Liebe oder Anerkennung anderer angewiesen sein zu müssen, fand ich am Cool Girl-Tum immer am attraktivsten. Meine ideale Interpretation des Cool Girl sollte regelrecht gefühlskalt sein, wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen ging. Ich wünschte mir, dass niemand mich durch seine*ihre Zurückweisung meiner Bedürfnisse verletzen könnte und erreichte diesen Status doch nie. Aber auf Verletzung und Enttäuschung mit Abweisung zu reagieren war praktischerweise auch Teil des Cool Girl Prinzips.
Die gute Nachricht ist, man kann sich diese Glaubenssätze und die daraus folgenden Verhaltensmuster auch wieder abgewöhnen. Ich arbeite daran und wie meine äußere Erscheinung heutzutage zeigt, mache ich Fortschritte. Erst kürzlich habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben in ein Nagelstudio gesetzt. Beim Tippen dieses Textes zeugen meine glitzernd manikürten Fingernägel und ein latenter Geruch nach Reifenabrieb davon, dass ich geschafft habe, was mich viel Überwindung kostete. Meine Voreingenommenheit gegenüber „gemachten Nägeln“ hinter mir zu lassen (in meiner Vorstellung verboten mädchenhaft) und festzustellen, dass sie mir wirklich gut gefallen. Denn mal ganz, ganz ehrlich, ob Mädchen oder Mensch, wer findet Glitzer nicht schön?