Erster Teil: Wahrnehmung und weibliche Passivität
Flashback ins Bewusstsein meines jüngeren Selbst in praktisch jeder vorstellbaren Situation: Ich lasse mich von außen betrachten. Ich lasse in meiner Vorstellung einen Beobachter entstehen, der durch meine Augen sieht und gleichzeitig auf mich herabschaut. Dieser Beobachter ist nicht immer derselbe Mensch, aber dafür immer männlich. Dieser Beobachter ist immer der Mann, von dem ich aktuell am liebsten gewollt werde oder werden würde. Oder um nicht die passivste Formulierung der Welt zu verwenden: Der Mann, an dem ich aktuell am meisten zwischenmenschlich interessiert bin.
Ich denke nicht einfach nur an ihn, in meiner Vorstellung habe ich ihn dazu eingeladen, mir beim Leben zuzusehen. Das müssen keine besonderen Momente sein, keine in denen ich etwas Bewundernswertes oder Heißes mache. Das kann alles sein. Nach bestem voyeuristischem Wissen und Gewissen. Diesen Tagtraum eines inneren Beobachters habe ich wiederkehrend schon seitdem ich ein vorpubertierendes Mädchen bin. Es kommt mir vor wie ein Film, der in meinem Bewusstsein gedreht wird. Ein Film ohne Pointe, dafür mit krankhafter Neugier in Bezug auf mein Leben.
Ein Begehren so groß, dass jedes kleinste Detail meines Daseins eingesogen und miterlebt werden muss. Eine passive und nicht-eingreifende Videoüberwachung a la Orwell. „Nicht-eingreifend“ stimmt nicht ganz, wenn man darunter versteht, dass diese Observierung keinen Einfluss auf mich haben würde. Zwar beobachtet mich niemand in Wirklichkeit, aber das hindert mich nicht daran, mich so zu verhalten, als ob! Das bedeutet, ich passe in diesen Momenten mein Verhalten so an, wie ich es als attraktiv für meinen Beobachter verstehe.
Schön für dich – Für meinen Beobachter nur das Beste
Ich bücke mich, um etwas aufzuheben, aber elegant statt effizient. Ich lege mich aufs Sofa, um auszuruhen, aber in sexy Pose anstatt entspannt. Ich mach’s mir selbst, aber nicht nur so, wie es sich am besten anfühlt, sondern als Entertainment. Ich kratze mich nicht im Gesicht, ich ziehe den Bauch ein, ich halte den Furz zurück. Nur auf der Toilette, da stelle ich mir lustigerweise vor, dass das universelle Regelwerk imaginierter Liveübertragung eine Grenze vorschreibt. Die Klotür, wie sie den einzigen privaten Raum markiert, in den ich meinen internalisierten male gaze nicht mit hineinnehme.
Aber warum das Ganze und wieso kam mir diese beinahe obsessive Fantasie so lange nicht seltsam vor? Vielleicht weil so viele Erzählungen, Filme, Geschichten, Fotografien, Musikvideos oder Gemälde das Lied in der gleichen Tonlage singen. Vielleicht weil ich es so gewöhnt war, dass die Figuren, mit denen ich mich identifizierte immer angeschaut wurden und nicht selbst beobachten. Bis die Perspektive der Draufsicht auf die weibliche Rolle die einzige wurde, mit der ich meine Identität überhaupt erfassen konnte. Denn was ich als junge Frau schon wollte, war, nach außen hin weiblich und schön zu wirken. Ungeachtet der Tatsache, wie sich dabei mein Innenleben anfühlte. Was dem Blick von außen verborgen war, blieb taub und unauffindbar.
Mein Trick auf dem Weg, die äußere Schönheit zu erreichen, war folgender: Ich hatte mir überlegt, wenn ich mich auch in Situationen, in denen ich allein war, so verhielt, als würde mich jemand beobachten. Jemand, von dem ich als attraktiv wahrgenommen werden wollte. Dann gab ich mir besonders viel Mühe mit der Schönheit. Wenn ich mich nur immer wie unter seiner Beobachtung bewegte und gab, dann war ich schön. Schönheit war Trainingssache und in meinem Kopf gleichgesetzt mit Außenwirkung.
Wer begehrt werden will, muss schön sein
Ob sich dieses Verhalten in irgendeiner Weise künstlich oder stressig anfühlte, war mir keine Frage wert. Ob diese Strategie tatsächlich funktionierte? Wahrscheinlich nicht. Schließlich liegen ihr dann doch zu viele Prämissen zugrunde, die ich zumindest heute nicht mehr als „Schönheit fördernde“ Aspekte betrachte: Zwang, Unauthentizität, innere Anspannung und Abwertung von allem, das offenbar mein unbeobachtetes Selbst „at ease“ war.
„Weirde Anekdote“, könnte ich jetzt abschließend sagen und das Notizbuch zuklappen. Aber kann eine Lebens- und Selbstwahrnehmungsweise, die einmal so buchstäblich eingefleischt war, wirklich keine weiteren Spuren hinterlassen haben? Hat mein innerer Beobachter tatsächlich nur meine Eigenwahrnehmung beeinflusst und nicht auch die Art und Weise, wie ich von anderen wahrgenommen werden will? An dieser Stelle komme ich zurück auf einen meiner großen Eigenmotivatoren: Meinen Sex Drive. Und den Umstand, dass sich der Wunsch nach Schönheit übersetzt in den Wunsch, begehrenswert zu sein.
Wenn dein Leben eine Bühne ist, wen spielst du? Und wer sitzt in deinem Publikum? Hast du Eintritt verlangt?
Zweiter Teil: Begehren und weibliche Passivität
Ich will begehrt werden. Von Menschen, die ich selbst begehre. Selbst von Menschen, die ich nicht begehre. Ich will spüren, dass ihre Begierde sich auf mich in voller Gesamtheit bezieht und nicht allein auf meine sexuelle Körperfunktion. Ich will ihr Verlangen danach spüren, mich für sich einzunehmen und zu besitzen. Denn das ist es, was ich selbst will, wenn ich begehre: Eine gewisse Zeit lang die Schönheit dieses Menschen mit meinen Händen fassen zu dürfen. Die ganze Aufmerksamkeit auf ihn richten, alles spüren, was ihn ausmacht.
Ich will so gewollt werden, wie ich selbst will. Mit allem Herz und Witz, mit aller Oberflächlichkeit und Unsicherheit. Mit Bewunderung für Talente, Gedanken und Resilienz. Begierde ist der Geifer der Faszination und für mich das einzig wahre Gleitmittel. Nichts macht mich mehr an, als verlangende Augen und ihre inhärente Wahrheit. Und nichts kann mich so schnell abstoßen.
Auf den ersten Blick scheint es paradox, dass ich Nicht-Monogamie lebe und gleichzeitig in Besitz nehmen und genommen werden will. Auf den zweiten Blick passen meine Sympathie für die Vielliebe und der kindische Stolz, ein Sammelalbum der faszinierendsten Partner*innen anzulegen, sehr gut ineinander. Sobald nämlich die Exklusivität wegfällt. Ich will nicht nur eine Person begehren. Ich will nicht, dass eine Person nur mich begehrt. Der Hunger auf mehr schmälert nicht die Wollust und Freude an meinem Festmahl.
Sie will, dass er sie will – Ein Hetero-Klassiker
Aber wieso eigentlich nichts geringeres als Gier? Warum ist das begehrt werden mein größter Kink und immer der erste Aspekt, den ich in einer gereiften Beziehung zu vermissen beginne? Wieso muss meinen Sexpartner*innen die Lust schon aus den Augen tropfen, damit es mir überläuft?
Das Bild, der Hetero-Klassiker des vor Begierde zügellosen Liebesanwärters und der (im besten Fall) geschmeichelten Frau fällt mir ein. Und mir wird bewusst, wie stark mein eigenes Verständnis von Sexualität noch von der Hetero-Rollenverteilung „aktiver Mann und passive Frau“ beeinflusst ist. Passive Frau, die quasi viktorianisch zurückhaltend ihre eigene Lust nur darüber definiert, wie begehrenswert und fickbar sie für männliche Bewerber erscheint.
Natürlich will ich Einflüsse dieses überkommenen Verständnisses von mir weisen. Aber ich kann es nicht. Die süß empfundene Bestätigung meiner Person, während ich begehrt werde, pampert nicht nur mein Ego. Sie lässt mich auch mich „richtig weiblich“ fühlen. Stellt in den Hintergrund, dass ich mich schon so häufig selbst sexuell aggressiv und initiierend erlebt habe. Selbst wenn ich mir mal schenke, dass ich mir gerne schmeicheln lasse durch aktive Avancen für mich attraktiver Personen, dann bleibt da trotzdem noch diese alte Idee, diese eingekrustete Romantik, dass seine Begierde mich in meiner Sexualität bestätigt, vervollständigt und veredelt.
Doch ein gleichwertiges Verhalten meinerseits verleiht mir nicht einfach so die Macht des sexuell aktiven, fordernden Parts, sondern lässt mich eher abnorm und bedürftig erscheinen. „Guck, wie sie ihn anhimmelt. Die hat’s aber nötig.“ Mir wird Selbstbewusstsein und Mut oder Gleichgültigkeit gegenüber meiner Außenwirkung attestiert, wenn ich als weibliche gelesene Person aktiv begehre. Einer männlich gelesenen Person wird nichts unterstellt, denn dieses Verhalten fällt bei ihr nicht weiter auf. Es gilt als normal und erwartbar, wenn nicht sogar leicht genervt und milde lächelnd als „typisch Mann“.
Aus passiv mach aktiv
Was die weibliche Wahrnehmung und Lust auf/durch Begierde hier verknüpft, ist die Passivität. Das schön sein wollen, um dafür Bestätigung zu erfahren und dadurch erst schön zu sein ist die berühmte Katze, die sich in den Schwanz beißt. Doch statt zu entdecken, wie viel Potential dieses Kätzchen auf TikTok hätte, wächst in mir der Wunsch nach Veränderung hin zur Aktivität.
Aktiv mich selbst wahrnehmen, anstatt den indirekten Weg über einen inneren Beobachter zu wählen, dem ich ja doch mein Innerstes nicht zeigen will. Aktiv zu begehren, andere Menschen, aber auch meine eigenen Empfindungen. Aktiv zu entscheiden, was schön an mir für mich ist, anstatt das andere im Eigeninteresse entscheiden zu lassen.
Das klingt alles nicht nur abstrakt, das ist bestimmt auch nicht einfach umsetzbar. Dass mir meine Passivität endlich bewusstwurde, fühlt sich schon enorm an. „Passive weibliche Sexualität“ lässt man nicht schon mit dem „Seestern“ hinter sich (die popkulturelle Bezeichnung für eine Sexstellung, die ich wirklich schwierig finde – sie hat keinen enthusiastischen Sex mit dir, sondern liegt unbeteiligt herum? Dann frag dich mal, ob dabei überhaupt alles konsensuell abläuft, Brudi).
Muster passiven Sexualverhaltens können sich auch darauf erstrecken, wie wir in Stimmung kommen, Lust empfinden oder unsere Partner*innen auswählen (uns auswählen lassen?!). Und auch wenn Passivität in manchen Fällen Entspannung und gewollte Abgabe der Kontrolle bedeutet, sprich, etwas Positives sein kann. In vielen Fällen scheint sie mir doch eher Ausdruck eines altbekannten negativen Phänomens: Sich selbst im Weg zu stehen.
Falls du Interesse hast, dich tiefer ins Thema passives weibliches Begehren einzulesen, unter folgendem Link gibt es die Masterarbeit „Von unterdrückter weiblicher Sexualität zur Konstitution von weiblichem Begehren“ von Sara Bähler zum kostenlosen Download. Nicht kostenlos, aber trotzdem lesenswert ist das Buch „Das beherrschte Geschlecht“ von Dr. Sandra Konrad. Und wenn es lieber „in house“ sein soll, dann schau doch mal hier rein: Schmetterlinge im ..wo? Keine Worte für Erregung