Seit sieben Jahren führe ich ein nicht-monogames Liebesleben. In dieser Zeit befand ich mich in einer langjährigen Partnerschaft und habe zusätzlich mehrere Menschen gleichzeitig gedatet. Ich habe regelmäßig Sex und Intimität mit unterschiedlichen Menschen geteilt, die alle voneinander wussten. Einmal haben mein damaliger Partner und ich beide zwei Liebesbeziehungen parallel geführt – inklusive Pizza essen mit allen vier Beteiligten. Das alles war nicht immer easy zu koordinieren, aber meine Freude an dieser Art der authentischen, offenen Zwischenmenschlichkeit ist es mir wert.
Nur eines verstehe ich nicht. Mir sind in dieser Zeit erstaunlich viele Menschen begegnet, die mir ihre Bedürfnisse und Affären verschwiegen haben, obwohl sie das gar nicht mussten. Denn wir hatten einander ja eigentlich aufrichtige Kommunikation darüber zugesichert, mit wem wir sonst noch vögeln.
Zum Beispiel zog ich kürzlich in dieselbe Stadt, in der meine langjährige offene Freundschaft plus lebte. Mit ihm war alles klar verabredet – dachte ich. Aber wenige Monate nach meinem Umzug flog auf, dass er mich lange belogen hatte. Mich und die ganzen anderen Frauen.
Er war eine verbindliche Beziehung mit einer Frau eingegangen, die zwar von seinem Wunsch wusste, nicht-monogam zu leben – nicht aber davon, dass das bereits Realität für ihn war. Diese Realität kam in Form von mir und anderen Frauen daher, deren Existenz in seinem intimen Einzugsgebiet er streng geheim gehalten hatte. Trotz der allseits bestehenden Vereinbarungen, einander über weitere Partner*innen auf dem Laufenden zu halten, hatte er uns alle voreinander versteckt.
Ich war enttäuscht und verwirrt von seinem Verhalten. Wieso sollte man sich den Stress machen, Affären zu unterschlagen, die quasi Teil des Deals sind?
Die Berliner Paartherapeutin Jamila Mewes arbeitet in ihrer Praxis regelmäßig auch mit polyamoren Paaren. Sie sieht im Fall meines unehrlichen Liebhabers den Beweggrund in der Furcht vor der Konfrontation mit den negativen Gefühlen seiner Partnerinnen. „Anders als in monogamen Beziehungen lösen wir mit unseren Bedürfnissen nach Sex oder Nähe zu Dritten in einer offenen Beziehung häufig tiefe, unangenehme Emotionen aus“, sagt Mewes.
Damit ist gemeint, dass Partner*innen in konsensuell nicht-monogamen Beziehungen sich mit der Angst nicht zu genügen konfrontiert sehen, wenn bspw. der/die Ehepartner*in Lust auf unverbindlichen Sex mit einer fremden Person äußert oder bestimmte Vorlieben nur abseits der Partnerschaft ausleben will. Das kann verletzliche Fragen aufwerfen wie “Reiche ich meinem Partner/Partnerin nicht? Ist der Sex mit anderen besser als mit mir?” Die Befürchtung, unzureichend zu sein, könne zu Verlustangst und Eifersucht führen und so den Konflikt der unterschiedlichen Bedürfnisse auslösen, erklärt Mewes.
Man muss es also aushalten können und wollen, wenn es für die Partnerin oder den Partner emotional herausfordernd ist, dass man die Freiheit nutzt, unterschiedliche Kinks und Sexfantasien mit Dritten auszuleben. Natürlich ist es ein gutes Zeichen, wenn uns die negativen Gefühle unserer Liebsten nicht kalt lassen. Für die eigenen Bedürfnisse einstehen zu können, ist aber etwas anderes als rücksichtslose Gefühlskälte.
Ein starkes Vertrauen in die Stabilität der Partnerschaft bei gleichzeitig offen ausgetragenem Interessenkonflikt ist schon etwas für Fortgeschrittene.
Therapeutin Mewes hat Verständnis für diese Schwierigkeiten: „Es ist unangenehm, jemanden, den wir lieben, dabei zu beobachten, durch tiefe Gefühle wie Eifersucht zu gehen. Es kann also vermeintlich leicht und verlockend sein, heimlich ein Abenteuer zu haben, statt sich mit den eigenen und den Gefühlen des/der Anderen auseinanderzusetzen.“
Unehrlichkeit kenne ich auch von der anderen Seite…
Unangenehme Gefühle dieser Art kenne ich auch gut. Daher hier mein Geständnis: Auch ich habe in offenen Beziehungen hin und wieder gelogen, anstatt zu sagen, was ich wirklich wollte.
Zum Beispiel gab es Tage, an denen ich keine große Lust verspürte, zuzulassen, dass mein langjähriger Partner auf ein Date mit einer anderen Frau geht. Hin und hergerissen sehnte ich mich einerseits nach mehr Zweisamkeit mit ihm. Andererseits wollte ich nicht die mono-normative Spielverderberin sein und seine Enttäuschung riskieren, weil ich ihn bat, stattdessen etwas mit mir zu unternehmen.
Also tat ich das, was wir uns versprochen hatten, nicht mehr zu tun. Ich log ihn und mich selbst an, indem ich behauptete, dass es mir nichts ausmachen würde, wenn er Zeit mit einer anderen Frau verbringt. Mein Bedürfnis nach Geborgenheit kam mir einfach zu needy vor, um meinen Partner damit zu “belasten”.
Leider war es meinem Bedürfnis egal, wie gerechtfertigt ich es fand. Deswegen schmollte ich an Abenden wie diesen unzufrieden und verletzt zu Hause vor mich hin. Dass das letztlich zum Konflikt führte, mit mir selbst und mit meinem Partner, überrascht sicher nicht.
Paartherapeutin Jamila Mewes versteht meine Lüge als Konfliktscheue, die meiner Aufrichtigkeit im Weg stand: “Es wird häufig vermutet, dass Ehrlichkeit zu Uneinigkeit oder Streit führen kann. Die meisten Menschen haben nicht ausreichend gelernt, wie Konflikte in sicheren Verbindungen funktionieren.”
Treffer, versenkt. Zumindest in meinem Fall, denn konfliktscheu bin ich in Liebesbeziehungen auf jeden Fall. Ist Unehrlichkeit bei eigentlich versprochener Offenheit also kein böse gemeintes Unvermögen, sondern einfach nur ein Angstthema?
“Der Wunsch und die Überzeugung, offen zu kommunizieren, können ehrlich gemeint sein“, sagt Mewes. „Die Umsetzung allerdings kann an viel ältere und tiefere Wunden rühren. Es ist wichtig für sich selbst die Verantwortung zu übernehmen und an der eigenen Konfliktvermeidung zu arbeiten, wenn der Grund für die Unehrlichkeit Verlustangst ist”, so Mewes.
Eine zentrale Rolle spielt also die Angst davor, abgewiesen zu werden, wenn man die eigenen Bedürfnisse wirklich aufrichtig kommuniziert. Nicht zu viel zu verlangen und keine Belastung für die Beziehung sein zu wollen, ist das Mantra der ängstlich Gebundenen. Aber wieso kommt es in Beziehungen, in denen zum Beispiel das Bedürfnis nach Sex mit anderen schon abgesegnet ist, dazu, dass es trotzdem nur heimlich ausgelebt wird? Schämen sich die Leute etwa für ihre Lust auf den Seitensprung?
Offizielle Zahlen dazu, wie viele Deutsche aktuell in Partnerschaften leben, in denen Sex mit Dritten ausdrücklich erlaubt ist, gibt es nicht. Entweder weil das in Deutschland nicht offiziell erhoben wird oder weil die Zurückhaltung, sich öffentlich zu nicht-monogamen Beziehungsformen zu bekennen, immer noch größer ist, als die Berliner Dating-Landschaft vermuten lässt. Immerhin theoretisch sind die Deutschen aufgeschlossen: Laut einer Studie des Datingportals Parship aus dem Frühjahr 2023 haben 35% der 1000 Befragten schon einmal Interesse daran gehabt, eine offene Beziehung zu führen.
Allerdings gaben 24% der Männer und 13% der Frauen an, dass sie ihr Interesse aus Furcht nicht ansprechen würden. Weder in ihrer bestehenden Partnerschaft noch beim Dating. Meiner Erfahrung nach verschweigen viele ihre nicht-monogamen Wünsche aber nicht nur beim Dating als Single, sondern vor allem bei der Suche nach einem neuen sexuellen Abenteuer außerhalb ihrer offenen Beziehung.
Eine Beziehung, die beim ersten Kaffee oder im Tinderprofil gerne unterschlagen wird, obwohl man doch “ethische” (also konsensuelle) nicht-monogame Verbindungen eingehen will. Aber das Verschweigen ist halt praktisch, weil man so nicht von Anfang an bei den Menschen durchs Raster fällt, die ausschließlich Singles kennenlernen wollen. Ganz nach dem Motto “Bin ich einmal durch die Tür, wird’s irgendwie schon passen.” Ein offener und ehrlicher Auftakt geht allerdings anders.
Wie kann ehrliche Kommunikation gelingen?
Meine Erfahrungen zeigen mir, dass Konfliktvermeidung durch Heimlichtuerei letztlich nicht zum Liebesglück führt. Wie können wir also mehr Mut fassen, um wirklich ehrlich zu kommunizieren? Jamila Mewes findet es wichtig zu verstehen, dass das geäußerte Bedürfnis des Partners oder der Partnerin nur etwas über ihn oder sie selbst, aber nichts über uns aussagt. Es bedeute nicht, dass man selbst als Partner*in nicht genug sei oder leiste. Ergo: Nicht immer alles persönlich nehmen und direkt einschnappen.
„Egal welche Beziehungsform gewählt wird, Kommunikation gelingt, wenn wir in der Formulierung von uns selbst sprechen“, erklärt Mewes. „Damit sind Ich-Botschaften gemeint, die wirklich die eigenen Bedürfnisse beschreiben.“ Dabei sei ein Satz wie „Ich finde, du bist zu oft weg“ keine Ich-Botschaft, auch wenn er mit diesem Wort beginnt. Wohingegen ein „Ich vermisse dich und und würde mir mehr Paarzeit wünschen“ eine klare Aussage über den eigenen Wunsch sei, ganz ohne Vorwurf.
Hätte ich damals mal lieber diese ehrliche Ich-Botschaft gesendet als „Na klar, geh ruhig zu deinem Date!“ zu flöten. Wer weiß, ob ich mir und meiner Konfliktscheue durch diesen aufrichtigen Bedürfniskonflikt nicht den ein oder anderen späteren Streit erspart hätte.
Heute weiß ich: Der Mut zu offener Kommunikation hängt nicht mit einer monogamen oder offenen Beziehungsform zusammen, sondern mit der Bereitschaft, einander zu vertrauen und aneinander zu wachsen. Der Frust, der durch das ständige Verstecken der eigenen Wahrheit entsteht, bildet keine gute Basis für Beziehungen jeglicher Form.