Ich bin Anfang 30 und freue mich über meine ersten grauen Haare. Im Gegensatz zu hübschen Lametta-Strähnen und seriösen Denkfalten finde ich die dunklen Ringe unter meinen Augen allerdings bedenklich. Aber als ich mich auf die Suche nach einem Beauty-Hack gegen sichtbare erste Alterserscheinungen machte, wurde mir klar: Ich bin viel zu spät dran. Deutlich später jedenfalls als die Altersgenossinnen, die Baby Botox anwenden.
Ich betrachte meine Lametta-Strähnchen im Spiegel, während ich einen Podcast über das sichtbare, weibliche Altern höre. Am Tag zuvor hat mir eine Freundin buchstäbliche Lametta-Strähnen in meine Haare geflochten. Glitzerndes Plastik glänzt jetzt neben meinen wenigen echten grauen Haaren. Ich finde es süß und bin gleichzeitig erleichtert, dass die ersten Anzeichen meiner verblassenden Jugend mich nicht weiter beunruhigen.
Es hätte auch anders kommen können. Ich könnte deutlich mehr Panik bei dem Gedanken empfinden, dass andere mir mein Altern ansehen. Schließlich wuchs ich mit dem medialen Tenor auf, dass weiße Haare und Falten vermieden werden müssen wie die Pest. Und wenn das bedeutet, dass man sich die Stirn aufschneiden und an anderer Stelle als zuvor an der Kopfhaut wieder festtackern lassen muss. Oder sich weniger ärgern soll, um die Zornesfalte zwischen den Augenbrauen zu verhindern. Wahrscheinlich sollte man auch weniger nachdenken, um Stirnfalten vorzubeugen. Ich habe das nicht mehr so genau im Kopf, es waren immer so viele Tipps auf einmal.
Anti-Aging Tipps und Cremes und procedures (den Begriff wortwörtlich mit “Prozedur” ins Deutsche zu übersetzen, gefällt mir wegen der anstrengenden Konnotation) habe ich meistens mit Distanz und höchstens mal aus Sensationslust näher beobachtet. Weil ich dachte, das betrifft mich ja nicht. Ich bin ja noch jung. In meinen Zwanzigern die Tagescremes mit Anti-Aging Wirkstoffen im Regal zurückzulassen und stattdessen mit einem günstigeren Normalprodukt von Dannen zu ziehen, habe ich immer als ein Privileg auf Zeit betrachtet. Das musste genutzt werden, solange es galt. Und mein 30. Geburtstag hat daran tatsächlich noch gar nicht so viel geändert.
Ich war es gewohnt, mein Leben lang für deutlich älter gehalten zu werden, als ich wirklich war. Ich habe das immer als Vorteil empfunden. Die Leute schoben ihre Fehleinschätzung meines Alters immer auf meine Körpergröße. Auch dann noch, als ich längst das für Wachstumsphasen typische Alter hinter mir gelassen hatte.
Danach beriefen sie sich auf meine “große emotionale Reife”. Gut, nahm’ ich auch, solange das bedeutete, dass man mich ernst nahm, mir Jobs gab oder mir eine Wohnung vermietete. Älter wirken, was auch immer älter aussehen beinhaltet, hat mir geholfen. Nicht zuletzt sogar, wenn es um belästigungsarme Bewegung durch den öffentlichen Raum ging.
Baby Botox, Baby!
Aber wie schon angedeutet, gefällt mir nicht jede Alterserscheinung. Die erwähnten Augenringe oder die neuen Rückenschmerzen sind schon weniger glorios. Ich kann sie halt auch nicht mal eben als ein simples feministisches Protestsymbol zweckentfremden, sondern muss sie als Hinweis interpretieren, dass ich besser mal meine Lebensweise anpasse. Also machte ich mich an die Recherche: Ab welchem Alter kümmert man sich um Anti-Aging und was genau muss ich tun? Doch anstatt mich dadurch besser informiert und motiviert zu fühlen, bekam ich Angst. Die Angst, den Startschuss im Rennen gegen das Altern nicht gehört und den Anschluss an meine Altersgenossinnen längst verpasst zu haben.
Und wenn ich ein Stichwort für diese Angst verantwortlich machen müsste, dann wäre es “Baby Botox”.
Laut der Journalistin, Yasmin Tayag, kann man den Begriff auf mindestens zwei unterschiedliche Arten verstehen: Erstens, dass beim “Baby Botox” nur mini-kleine Mengen des Nervengifts verwendet werden. Also viel geringere Mengen als bei einer vollen Dosis in die Gesichtsmuskulatur injiziert wird. Und zweitens, dass die Anti-Aging-Prozedur an Personen durchgeführt wird, die das mit dem Altern noch nicht so lange machen, weil sie noch sehr jung sind. Personen, häufig Frauen, die sich schon mit Mitte oder sogar Anfang zwanzig quasi präventiv Botox spritzen lassen, damit Falten gar nicht erst entstehen. “Baby Botox” bedeutet also, sich buchstäblich das eigene Babyface einfrieren zu lassen. Mit dem Ziel, so unsichtbar wie möglich zu altern.
Tayags Ausführungen in der Episode des Podcasts Today Explained “How to ‘fix’ your face” zu folgen, verursachte zwei Reaktionen in mir: besagte Angst, zu spät dran zu sein und die gleichzeitige Wut darauf, dass man mir diese Angst machen konnte. Ich war wütend, weil ich das Gefühl bekam, dass mir Sorgen eingepflanzt wurden, die einfach nicht existieren sollten.
Plötzlich fragte ich mich: Werden mich die Falten in meinem Gesicht doch irgendwann stören und ich es dann bereuen, dass ich nicht früher Maßnahmen ergriffen habe? Bin ich die einzige Naive, die dachte, bisher altern alle um mich herum auf natürliche Weise? Und: Ist etwas dran an der im Podcast besprochenen Angst, mit 50 auf dem Dating-Markt mit Gleichaltrigen zu konkurrieren, die alle wie 30 oder sogar 20 aussehen? Selbst wenn ich jetzt noch schnell anfangen würde, meinen Anfang 30 Look möglichst permanent auf meinem Gesicht installieren zu lassen, könnte ich mir das überhaupt auf Dauer leisten?
Ganz ähnlich wie beim Haare färben oder Nägel machen ist es ja so, dass man die meisten nicht- oder minimal-invasiven Verjüngungs-Zauber wiederholen muss, damit sie auch dauerhaft wirken. Und das kostet verdammt viel Geld. Da ich mich gerade aus dem Grund, nicht immer wieder in meinen Ansatz investieren zu müssen, gegen eine neue Haarfarbe entschieden hatte, ließ ich den Gedanken an einen ersten Botox-Versuch auch schnell wieder fallen. Die Panik, die ich da gespürt hatte, war nunmal – auch wenn das vielleicht in ein paar Jahren nicht mehr gilt – die Panik der anderen.
Da wünsche ich mir schon fast wieder die Zeit zurück, in der kaum und nur hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen wurde, wenn jemand “was hatte machen lassen”. Dass Beauty-Eingriffe jedweder Art als etwas Verwerfliches galten, hatte auch den Effekt, dass man sie als nicht so erstrebenswert präsentiert hat wie heute. Was ursächlich dazu geführt hat, dass Botox heute als Selfcare gilt, führt hier zu weit. Wieso das Interesse an Fillern & Co. aber so stark angewachsen ist, möchte ich allerdings noch kurz anschauen.
In der bereits erwähnten Podcast-Folge von Today Explained bespricht die Moderatorin mit einer Ärztin die These, dass die Corona Pandemie wie ein Brandbeschleuniger für die Nachfragen nach Anti-Aging Produkten und Beauty-Behandlungen gewirkt haben soll. Social Distancing hätte wie keine andere Maßnahme zuvor zur Folge gehabt, dass wir uns noch häufiger und länger vor Bildschirmen wiederfanden, die entweder unser Gesicht im unvorteilhaften Licht eines Zoom-Meetings zeigten. Oder andere Gesichter auf sozialen Medien, die durch Filter und Beauty-Eingriffe so viel jünger und frischer aussahen als unser eigenes, und unweigerlich zu unseren Vorbildern für das neue Schön wurden.
Ist ein Großteil der Angst vor dem älter aussehen also wieder dem guten alten Vergleich geschuldet? Würde ich überhaupt über die Anwendung von Anti-Falten Cremes nachdenken und “Baby Botox”-FOMO haben, wenn ich mein eigenes Gesicht seltener sehen würde? Wahrscheinlich nicht.
Vielleicht ist das ein ganz guter Leitfaden, um herauszufinden, welche Maßnahmen ich ergreife, um meinen körperlichen Alterungsprozess ein wenig zu verlangsamen. Ich spüre, dass mein Rücken nicht mehr so belastbar ist und schmerzt. Ich fühle mich mit derselben Menge an Schlaf nicht mehr so fit wie früher. Klingt so, als wäre es eine gute Idee, was dagegen zu tun. Aber ob ich auch fühlen würde, dass meine Gesichtshaut tiefer hängt als früher? Fraglich. Ich widme mich jetzt jedenfalls lieber zuerst den Maßnahmen, die mein Lebens- und Körpergefühl verbessern sollen.
Der Zug für “Baby Botox” in den Zwanzigern ist für mich eh abgefahren, also muss ich mich jetzt auch nicht mehr hetzen.