Ja, er war meine große Liebe. Nein, das ist nicht alles, was im Leben zählt.
Kaltenbach
Curth
Hoffmann
Öztürk
Die Kanten der leeren Kartons drücken sich schmerzhaft in meine Seite, während ich sie durch den Hausflur schleppe, um sie unten angekommen wieder mit meinen Habseligkeiten zu befüllen. Bücher, Kleidung, Bilder, Leben. Wie leer muss ich die Kisten lassen, damit ich sie noch tragen kann? Wie voll, damit ich nicht zu viele Tage brauche, um meinen Kram in die neue Wohnung zu befördern? Und wieso achte ich nie auf meine Belastbarkeit, wenn ich meine mentalen Kisten wieder mit emotionalem Kram befüllen soll?
Prüfend hebe ich einen der Kartons an. Geht noch. Also los, wieder rauf.
Krieger
Adamczik
Schulze
ich.
Ich schnaufe und bin außer Atem. Meine Arme und Beine sind müde von der ungewohnten Belastung. So hoch habe ich noch nie gewohnt und so ohne Aufzug. Mein Vogelnest.
Ich lade es aus, mein Leben, ich trage es Stufe für Stufe hinauf in ein neues Licht. Auch neu ist, dass ich diese Anstrengung größtenteils alleine unternehme. Ja, damit der Mai alles neu machen kann, muss er erst alles zerstören, einreißen, umkrempeln, was war. Und ich lasse es gern geschehen. Weg mit dem alten Job, raus aus der alten Wohnung, vorbei mit der alten Beziehung, kein Stein mehr auf dem anderen. Der Mai macht neu, der Mai gibt frei, gibt wenig Sicherheit und macht den Raum weit auf. Noch habe ich keine Angst, mich darin zu verlieren.
Stattdessen weiter
Kaltenbach
Curth
Hoffmann
Öztürk
und wieder rauf Krieger
Adamczik
Schulze
ich.
Bis ich nicht mehr kann oder bis kein Teil meines Lebens unten mehr auf mich wartet. Erst oben sortiere ich. Schaue genau hin, was noch passt und was nie mehr wieder passen wird. Und dann schmeiße ich raus. Mit jedem Teil wird der Nachdruck größer. Bis ich nur noch weg wuchte, was nichts mehr für mich tun kann. Was mich nicht warm genug hält, mir nicht gut genug schmeichelt, mein joy nicht heftig genug sparked. Marie Kondor macht sich ihr Nest.
Von meinem hohen Balkon aus lässt es sich mit so viel mehr Zuversicht gucken. Die Gedanken schweifen mit dem Blick und fallen an eine Stelle dort im Erdgeschoss, die ich in den letzten anderthalb Jahren noch nie mit so viel Abstand betrachten konnte. An dieser Stelle sitzt der Satz: Die Beziehung meiner 20er war meine große Liebe.
Mit weniger Abstand hat dieser Gedanke immer bedrohlich gewirkt. Eine staatstragende Schwere lag in seiner Endgültigkeit neben dem Versprechen einer vergebenen Chance. Was für ein kardinaler Fehler, sich die große Liebe aus der Hand nehmen zu lassen. Sowas kommt doch so schnell nicht zurück, für die meisten Menschen kommt sie nie nochmal.
Aus der Höhe betrachtet, wirkt diese Einschätzung nicht weniger richtig. Aber deutlich weniger relevant. Ja, ich habe meine große Liebe aufgegeben. Nein, ich habe nicht sonderlich um ihren Erhalt gekämpft. Mit mehr Abstand betrachtet, ist es aber fast egal, ob das ein Fehler war oder nicht. Denn von hier oben lässt sich so viel einfacher erkennen, wie viel Leben noch neben und hinter dem Gedanken stehen. Wie viel Raum da noch ist auf der Landkarte und wie viele alternative Routen es gibt.
Um meine große Liebe vielleicht zu retten, hätte ich auf dem Absatz kehrt machen müssen. Warum ich dazu nicht bereit war, kann ich jetzt erkennen. Den Nestbautrieb, der viele Partnerschaften antreibt, hatte ich auch. Aber ich musste zuerst den richtigen Ort dafür finden. Jetzt, wo ich ihn gefunden habe, setzt sich das Nestwerk wie von selbst zusammen. Und es hält mich und es trägt mich gut.
Es hält mich ähnlich fest wie die Umarmungen, die mein Ex und ich austauschen. Früher kam die Festigkeit von der Intensität unserer Sympathie. Heute bittet sie um Entschuldigung. Es liegt ein Unterton des Bedauerns in diesem Druck. Entschuldige, dass es uns nicht mehr gibt. Es tut mir leid, um die Menschen, die wir waren. Die, die sich ineinander verliebten an einem Sommertag vor zehn Jahren. Manchmal vermisse ich die beiden. Die Menschen und die Leichtigkeit, mit der sie ihre Lebensentscheidungen trafen.
Tausche Leichtigkeit gegen Überblick. POV: Deine Wohnung ist ein Ausguck auf ein altes Leben. Und dein Ausblick in ein neues. Alles neu macht der Mai. Aber dazu muss ich nochmal
Kaltenbach
Curth
Hoffmann
Öztürk.
Krieger
Adamczik
Schulze
ich.