Beziehungsabsprachen, Regeln, Richtlinien – Ein Thema, das als eines der ersten zur Sprache kommt, wenn Menschen mir Fragen zu meiner Nicht-Monogamie stellen (meistens direkt nach der Frage, ob ich nicht eifersüchtig sei). „Ihr habt dann aber so Absprachen, wenn ihr mit anderen Leuten schlaft, oder?“ Das kommt ziemlich schnell, denn den einen oder anderen Podcast zu offenen Beziehungen hat auch Thomas schon einmal durchgeskippt. Man weiß Bescheid.
Und man kann sich sehr gut vorstellen, dass so eine Liebesanarchie zur Sicherheit auch ein paar Regeln braucht. „Sex mit anderen ist erlaubt? Dann sollten die aber wohl besser mal über Verhütung gesprochen haben! Oder darüber, wie man Gefühle für Dritte verhindern will“, doziert der gedanklich erhobene Zeigefinger. Was mich daran immer wundert: Wieso werden monogam liebende Menschen nicht nach ihrem Beziehungsvertrag gefragt?
Schließlich impliziert doch die Tatsache, dass eine Partnerschaft sexuell exklusiv gelebt wird, dass es verbotene Handlungen und grenzüberschreitende Aktionen geben muss. Was, wenn nicht „monogam“, schreit, dass es Grenzen gibt? Aber erst da, wo „offen“ draufsteht, fragt man nach ihnen. Wäre es nicht viel spannender alle Leute, die Auskunft geben möchten, nach ihren Beziehungsabsprachen zu fragen? Im schlimmsten Fall lernt man andere Perspektiven kennen. Im besten Fall werden sich alle Beteiligten bewusst, wo sie unbewusst von unterschiedlichen Definitionen ihres Beziehungskonzepts ausgegangen sind.
Eine andere Möglichkeit wäre, die Frage nach den Absprachen nur noch Menschen zu stellen, mit denen man übereinkam, dass man miteinander intim werden möchte. Denn erst dann benötigt man als unbeteiligte Person diese Infos überhaupt wirklich. In allen anderen Situationen kann man davon ausgehen, dass ein Verhör aus rein sozialwissenschaftlichem Interesse als ziemlich übergriffig empfunden werden kann. Konsens spielt auch hier eine Rolle.
Beziehungsabsprachen sind ein Geländer und kein Gerüst
Aber zurück zum Thema – Tatsächlich existieren Beziehungsabsprachen immer und nirgends werden sie so evident wie in frisch geöffneten oder neu nicht-monogam eingegangenen Beziehungen. Sie sollen Halt geben, eine Richtung vorgeben, wenn wir uns möglicherweise sogar auf gleich zwei unbekannten Terrains bewegen: Dem Führen konsensuell nicht-monogamer Partnerschaften und den persönlichen Grenzen & Komfortzonen der etwaigen Partnerpersonen.
Es ist normal unter anderem auch Ängste zu spüren, wenn man sich an so einen Neubeginn wagt. Und da die meisten von uns nicht in anarchischen Verhältnissen aufgewachsen sind, verbinden wir Regelwerke und Gesetze mit Sicherheit, die uns dabei hilft, die Angst in Zaum zu halten. Darf ich die Phrase bedienen? Wir erschaffen uns dadurch selbst etwas, das eine Illusion von Sicherheit ist. Aber das ist fair und reicht aus, damit wir uns raustrauen.
Allerdings kann keine Regel oder Absprache der Welt verhindern, dass Partnerpersonen Beziehungen beenden. Genauso wenig wie Eheverträge oder gemeinsame Kinder, as we all know. Deshalb müssen die anfänglich aufgestellten Beziehungsabsprachen auch nicht als in Stein gemeißelte Gebote betrachtet werden, sondern sollten flexibel und veränderlich bleiben.
Ich möchte nicht sagen, dass Absprachen ganz weggelassen werden sollten. Nein, sie bilden ein vernünftiges Leitsystem für ungewohnte Situationen oder herausfordernde Interessenskonflikte, wenn sie realistisch formuliert sind und keiner Person aufgezwungen wurden (Spoiler: Dann funktionieren sie auch nicht – die Leute halten sich nämlich meistens nicht dran). Ich meine damit, verletzt jemand eine Absprache oder fragt sich, wieso sie überhaupt initial aufgestellt wurde, dann ist nicht die Zeit für Sanktionen gekommen, sondern für eine Diskussion über die betreffende Regel.
Stellt sich eine Regel für euch als nicht umsetzbar heraus (z.B. „immer nur gleichzeitig Dates haben“) oder wirkt sie auf euch in einem individuellen Fall plötzlich sinnlos (z.B. „nie bei anderen Sexpartner*innen übernachten“, wenn ihr jemanden datet, der*die in einer ganz anderen Stadt wohnt)? Dann definiert die Absprache neu oder entscheidet im speziellen Fall einmal anders, als es ursprünglich vorgesehen war. Das ist kein inkonsequentes „Schleifenlassen“ von Prinzipien – ganz im Gegenteil. Die Hauptsache dabei bleibt, es geschieht einvernehmlich und mit gegenseitigem Verständnis.
Denn Wachstum und Einsichten durch eine gemeinsame Beziehungspraxis sind nicht nur erlaubt, sondern meiner Erfahrung nach auch sehr begrüßenswert. Beziehungsabsprachen funktionieren für mich dann gut, wenn ich sie nicht als stützendes Gerüst um die Fassade meiner Beziehung betrachte, sondern als eine Art Treppengeländer. Ich kann meine Finger locker über den Handlauf streichen lassen, ich kann mal freihändig gehen, ich kann mal zupacken und mich wirklich festhalten, wenn ich stolpere und nicht ganz abstürzen will. Aber ich bekomme nicht das Gefühl beschränkt zu werden, nicht bewegungsfrei zu sein oder bei einem „Verstoß“ das gesamte Gerüst ins Wanken zu bringen.
Partnerschaften kennen mehr als eine Richtung
So wie viele andere nicht-monogam verpartnerte Leute habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich Beziehungsabsprachen über die Zeit, die dieselbe Beziehung dauert, immer weiter reduzieren. Wenn das Vertrauen wächst, dass auch in den Entscheidungen meines*r Partners*in meine Interessen mitbedacht werden und ich nicht fahrlässig verletzt werde, dann werden viele Regeln nach und nach automatisch obsolet. Ich mag dieses Gefühl.
Dieses Lockerlassen birgt allerdings das Risiko, dass die Beteiligten aufhören, ihren Beziehungsvertrag zu besprechen und zu aktualisieren. Es besteht die Gefahr, aus den Augen zu verlieren, dass Beziehungen sich nicht immer nur in Richtung „mehr Vertrauen“ entwickeln müssen. Neue Herausforderungen oder Änderungen der Lebensumstände lösen möglicherweise aus, dass wieder ein größeres Bedürfnis nach Rückversicherung oder Kontrolle erwächst. Das ist völlig normal und kein schlechtes Signal, bedeutet aber auch, dass Absprachen neugestaltet werden oder wieder in Kraft treten müssen, die eigentlich schon einmal überflüssig geworden waren.
Das stellt keinen Verlust der Freiheit oder gar ein sicheres Anzeichen dafür dar, dass die Partnerschaft auf dem absteigenden Ast ist. Menschliche Bedürfnisse sind unterschiedlich und verändern sich in Wechselwirkung mit ihren Lebensumständen, weshalb so eine Entwicklung generell erst einmal nichts über die Qualität der Partnerschaft aussagt. Die notwendige Flexibilität in den Beziehungsabsprachen kann sogar so weit gehen, dass das gesamte Beziehungsmodell an neue Bedürfnisse angepasst werden oder neu verhandelt werden kann. Einmal eine Beziehung geöffnet zu haben, bedeutet nicht, dass sie zwangsläufig irgendwann zu einer polyamoren Partnerschaft wird oder dass sie nie wieder monogam oder sexuell exklusiv gelebt werden könnte.
Die Absprachen einer jeden Partnerschaft können wie kleine Stellschrauben eingesetzt werden, die in beide Richtungen beweglich bleiben. Mit ihrer Hilfe lassen sich Beziehungen über ein Kontinuum bewegen – hin und zurück zwischen Exklusivität und Inklusion. Klingt komplex? Kann es werden. Aber meistens helfen zwei Techniken besonders gut, um den Überblick zu behalten: Offene Kommunikation und, ganz wichtig, sich die Zeit zu nehmen, die eine gemeinsame Entwicklung braucht.
Sooo, always stay flexible!