Es gibt gute und es gibt schlechte Umgebungen, um keinen Alkohol zu trinken. Und nein, du brauchst jetzt nicht tief einzuatmen und im Brustton der Überzeugung zu sagen, dass doch außerhalb vom Dorffußballclub heute nun wirklich niemand mehr zum Trinken gezwungen würde. Vor allem nicht in deutschen Großstädten wie Berlin. Du brauchst gar nicht erst dafür anzusetzen, für diese giftige Diskussion, die uns alle selbstsabotiert und nur tiefer in den Glauben gaslightet, diese Erfahrung des sozialen Drucks gäbe es nicht mehr.
Also, ich lege nochmal los: Gute und schlechte Umgebungen, um nicht zu trinken. Die schlechten, das sind die, in denen die Prämisse der Umgebung das Trinken ist (Kneipe, Bar, eh klar). Aber auch die Umgebungen, in denen Alkohol die Basis der Verständigung darstellt, die wir uns meistens gar nicht bewusst machen. Und diese Art der Umgebungen finden sich beinahe überall. Beim Sport gucken oder machen, bei Spieleabenden mit Freund*innen, Dates, Familienabendessen, Musikveranstaltungen, Aftershowparties, Arbeitsevents. Überall dort und an vielen anderen Orten bildet der Alkohol die Basis des Zusammenkommens. Wir schaffen eine Grundlage für’s Trinken und das Trinken schafft die Grundlage für unsere Netzwerke.
Soziale Effekte durch nicht Trinken
An all diesen Orten begegnet mir das Gefühl mit den Menschen um mich herum nicht mithalten zu können, wenn ich nicht trinke. Mich mit ihnen nicht verbinden zu können, weil ich sie irgendwann nicht mehr erreichen kann. Du stehst oft außen vor, wenn du nicht mittrinkst. Nicht nur, weil manche Menschen sich vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn du das alkoholische Getränkeangebot ablehnst. Sondern auch weil die angetrunkenen oder betrunkenen Gehirne um dich herum einfach langsam aber stetig anders schalten als dein nüchternes Hirn. Andere Dinge witzig finden als du, weniger Geduld mit dir haben, schnell abgelenkt sind und doch genug Ausdauer besitzen, um die immer immer gleiche Gesprächsschleife zu durchlaufen.
Auf einmal triffst du vollkommen andere Entscheidungen als deine Leute, fühlst dich in den Räumen nicht mehr wohl, in denen du dich mit ihnen bewegst und vor allem wirst du müde. Sie aber nicht, bis sie dann ganz aus sind.
Der tolle Daniel Schreiber formuliert in seinem Buch „Nüchtern“, dass er sich in trinkender Umgebung „sozial ungelenk“ fühlte. Ich finde diese Beschreibung unheimlich treffend für das, was ich selbst in Umgebungen empfinde, die sich zum nicht Trinken schlecht eignen. Ich finde, das macht mich einsam und ich finde auch, dass man das nicht herunterspielen sollte. Ich bin eigentlich alles andere als sozial ungelenk, denn es fällt mir nicht schwer, Verbindungen zu Menschen herzustellen. Dass der Alkohol mich zur selbstempfundenen Außenseiterin macht, grenzt an Mobbing. Nur dass niemand es so definieren würde. Ich habe es mir ja selbst ausgesucht, nicht zu trinken. How dare me im Land der Dichten und Trinker.
Alkohol-Verzicht erleichtern
In vielen Umgebungen wird es mir nicht leicht gemacht, auf Alkohol zu verzichten. Vor allem, wenn man wie ich eigentlich gerne trinkt. Wenn man den Geschmack unterschiedlicher Alkoholika genießt oder den Rausch selbst oder den sozial verbindenden Effekt. Diese so unerschöpflich scheinende Lust auf und Energie für Abenteuer (it’s a trap). Ich persönlich habe besonders dem Weintrinken einige positive Aspekte abgewinnen können. Auch wenn ich festgestellt habe, dass die negativen Aspekte für mich einfach schwerer wiegen, macht das den praktischen Verzicht nicht immer leicht. Ich würd’s gern einfach nicht mehr wollen wollen, das Trinken. Dieser Konflikt hat bei mir allerdings viel mit Genuss und Gönnung zu tun, was einen Verzicht nicht zur leichtesten Angelegenheit macht, wenn man mich fragt.
Deshalb fühlt es sich für mich sehr angenehm an, wenn ich mich in Umgebungen aufhalte, in denen es mir leicht gemacht wird, nicht zu trinken. Ich weiß, dieser Satz klingt als Feststellung total trivial, aber das Gefühl in der beschriebenen Situation ist es nicht. Das lässt sich nur als sehr komplexe Erleichterung bezeichnen. Ein Erkenntnismoment a la ach, so kann das Leben auch sein: Unanstrengend.
Wie einfach es sein kann, nicht zu trinken, wenn die Menschen, die dich umgeben, das willkommen heißen. Dich nicht in Frage stellen. Dich vielleicht sogar verstehen und deine Erfahrung teilen. Dafür (kann man) muss man nicht einmal zu einem Meeting der Anonymen Alkoholiker gehen. Diese Umgebung kann man auch in seinem eigenen sozialen Umfeld schaffen.
Zum Beispiel muss im Büro-Kühlschrank nicht literweise Bier gelagert werden. Ein Gespräch mit den Kolleg*innen, in dem der Wunsch nach einer alkoholfreien Arbeitsumgebung erklärt wird, kann schon viel bringen. Viele Menschen sind fein damit, einem offen geäußerten Wunsch entgegen zu kommen. Sie sind sich nur vorher der Not nicht bewusst, weil Alkohol in Deutschland so extrem normalisiert ist.
Ganz ehrlich, niemand muss am Arbeitsplatz ständig alkoholische Getränke zur Verfügung haben, wenn die Jobbeschreibung keinen Alkoholausschank beinhaltet. Und selbst in einer Kneipe: Der Mensch hinter der Bar muss nicht trinken, um seinen*ihren Job gut zu machen. Dann müssen das die Leute in deiner Marketingagentur erstrecht nicht. Für after work launches kann man auch einfach mit allen, die wollen, in eine Bar gehen und trotzdem die Rechnung auf die Firma ausstellen lassen.
Die Gedanken sind alkoholfrei
Im eigenen WG-Kühlschrank sind die Gestaltungsmöglichkeiten für Alkoholfreiraum wahrscheinlich etwas eingeschränkter. Was mir persönlich in privaten Umgebungen geholfen hat, ist, das Bewusstsein für das Bedürfnis nach Freiräumen in den Köpfen zu schaffen. Ich habe vielen Menschen in meinem sozialen Umfeld erklärt, inwiefern sich meine Einstellung zum Trinken verändert hat und warum. Und siehe da, mir ist viel Verständnis begegnet.
Irgendwann haben sogar ein paar meiner Freundinnen selbst ausprobieren wollen, auf Alkohol zu fasten, um zu schauen, was es mit ihnen macht. Was das tatsächlich „macht“ ist natürlich sehr individuell. Aber in jedem Fall macht es die Tür auf für ein ganz anderes Verständnis für die Bedeutung von alkoholfreien Umgebungen. Es öffnet die Tür für Neugier auf Alternativen zu Rausch und Kater.
Besonders positiv fiel mir auf, was für eine dankbare Erleichterung man bei manchen Mitmenschen dadurch auslösen kann, wenn man Umgebungen schafft, die sich gut eignen, um nicht zu trinken. Zuletzt schmiss ich eine Geburtstagsparty, bei der für alkoholfreie Getränke gesorgt war, die Spaß machten und die auf den ersten Blick nicht als unalkoholisch erkennbar waren (was ein fancy Glas plus Strohhalm schon ausmachen). Dafür begegnete mir große Dankbarkeit bei einigen meiner Gäste, die üblicherweise regelmäßig Alkohol konsumierten.
Auch sie genossen, dass sie nun die Freiheit hatten, nicht die alt bekannte Diskussion am Stehtisch fürchten zu müssen. Ob sie nicht vielleicht DOCH NUR EIN GLAS?!? Sie mussten nicht lügen, dass sie noch fahren müssten oder awkwarde Zusagen an Fastfremde machen, sie dann immerhin später nach Hause zu bringen. Keine*r musste verraten, dass die Vermutung im Raum stand, schwanger zu sein. Keine*r musste sich fragen lassen, ob man schwanger sei und die unangenehme Pause ertragen, die häufig im Kielwasser dieser Frage schwimmt. Bitte schön, gern geschehen. Das wird alles möglich in einer guten Umgebung zum nicht Trinken. Und das kann sogar eine Party sein.
Was ich sagen möchte, ist, bitte nehmt Rücksicht aufeinander. Hört hin, wenn Leute sagen, dass sie nicht mehr (so viel, so oft) trinken wollen. Sie schaffen sich mit diesem Statement gerade ihre gute Umgebung. Sie wollen die Leute um sich herum nicht nerven (meistens). Niemanden dafür shamen, dass er*sie Alkohol konsumiert. Sie wollen nur eben nicht mehr aus so vielen Räumen ausweichen müssen, in denen das Trinken unhinterfragt vorausgesetzt wird. Eigentlich nervt es mich, wie unglaublich diplomatisch der vorherige Satz klingt. Als wäre Trinken das fragile Ego der Gesellschaft, das sich auf keinen Fall kritisiert fühlen darf, weil es bei Bedrohung sofort mit Trichtersaufen und Bierpong um sich schlägt.
Ja, Alkohol wirkt gemütlich, schleift die spitzen Ecken ab und verbindet Menschen, aber… Aber tut er das wirklich? Ich habe mich selten so unverbunden, da unverstanden von jemandem gefühlt wie in betrunkenen und nicht enden wollenden Partydiskussionen. Gespräche, die sich immer nur im Kreis drehen und in denen null Kommunikation stattfindet. Und dann ist da die Wut, diese hemmungslose Wut, mit der betrunkener Kontrollverlust die Umgebungen zerstören kann. Und zwar alle Umgebungen – die guten und die schlechten. Nur halt nicht die alkoholfreien.