Ich blinzle ins Gegenlicht. Zwischen meinem Gesicht und der Oktobersonne huscht ein Schatten entlang. Geworfen von einer Person, die mich an meine Grundschullehrerin Frau W. erinnert. Als sie an meiner Parkbank vorbeizieht, ächzen über unseren Köpfen die Zugvögel. Wir befinden uns in einer anderen Stadt als meine Grundschule und ich schätze daher, auch die Person ist eigentlich eine andere. Mein Gedächtnis-Kino wurde trotzdem schon angeworfen.
Wirklich viele Erinnerungen habe ich nicht an meine Grundschulzeit. Aber sehr deutlich prangt mir noch die Szene vor Augen, wie Frau W. mit Resolutheit versucht ihre eigene Unsicherheit zu überspielen. Als sie die richtigen, das heißt, funktionierende Worte zu finden versucht, die einem Haufen 8jähriger verständlich machen können, was ein Orgasmus ist und weshalb viele Erwachsene ihn gerne haben (wollen).
Auch das Prinzip, dass ein Penis in eine Vagina eindringen kann, ohne dass das schmerzhaft würde, und wieso Leute sowas tun wollen würden, versucht sie uns näherzubringen. Sie beschreibt, wie die Vagina dafür „ganz weich und bereit“ (Zitat) wird. Was das mit dem Orgasmus („ein sehr schönes Gefühl“) zu tun haben sollte, ließ sie jedoch entweder wohlwissend aus oder ich kann mich nicht mehr daran erinnern, dass eventuelle Zusammenhänge aufgeklärt worden wären.
Stichwort Aufklärung. Dafür weiß ich noch ganz genau, dass die Antworten zu den Fragen meines ersten Sexualkundetests, die ich mit Bleistift auf mehr graues als weißes Ökodruckerpapier schrieb, vollkommen fehlerfrei waren. Inklusive kleiner Zeichnung eines Spermiums. Die kann man ja wohl auch schlecht verkacken, sagst du? Mein Sitznachbar malte es mit vier kleinen Beinchen und bekam dafür Punktabzug.
Zuhause hatte meine Oma gemeinsam mit mir für diesen Test gelernt, als müsste sie ihn selbst schreiben. Damals verstand ich ihre Motivation dazu natürlich falsch und verwechselte sie mit ihrer üblichen Hilfsbereitschaft, die zufälligerweise einfach einen guten Schluck größer war als sonst. Heute kann ich im Rückblick bei ihr unverhohlenes Interesse an Erkenntnissen ausmachen, die ihr bereits lange vergangene Erlebnisse erklärten.
An diesen drei Generationen von Frauen (meine Oma, Frau W. und ich) ist eine rührende Entwicklung zu erkennen. Eine Bewegung hin zu mehr Wissen über Lust und Körper als sexuelle Systeme. Eine Bewegung, die ihren Ursprung in vager Unklarheit nahm und über ein nie ganz fallendes Unbehagen, die Tatsachen laut auszusprechen, zu einem unbändigen Antrieb auswuchs, dieses Wissen zu mehren, wertzuschätzen, selbstbestimmt einzusetzen und vor allem als Werkzeug zur Selbstbestimmung weiterzureichen.
Diesen Monat, mit Ende der Oktobersonne, beginne ich endlich eine Ausbildung im Bereich Sexual- und Paartherapie. Diese Ausbildung wird mich nicht befähigen Menschen zu heilen. Aber das Wissen, das ich hoffentlich aufsaugen werde, wird mir helfen, die besten Wege zu finden, Informationen über Sexualität, Lust, Liebe und Partnerschaft einzuordnen und nachvollziehbar weiterzugeben.
Denn auch wenn mein Grundschul-Aufklärungsunterricht nicht der einzige Anlass zu schulischer Bildung über Sexualität war, sind große und wichtige Teilbereiche des Themas, vor allem die Lebensrealität des Themas, nicht an mich herangetragen worden. Stattdessen wurde lieber (gezielt?) dazu geschwiegen, dass realer Sex so viele andere Zwecke als Reproduktion hat. Wie die Klitoris tatsächlich aussieht, wie zum verwechseln ähnlich die Anatomie „weiblicher“ und „männlicher“ Genitalien wirklich ist und wie vielgestaltlich selbst die Genitalien desselben Geschlechts.
Was ist Lust? Es gibt Liebe abseits der heterosexuellen, monogamen Norm? Was soll überhaupt die Norm sein? Was ist Konsens und wie gebe oder hole ich Einwilligung ein? Antworten auf alle diese Fragen habe auch ich als Teil der dritten Generation seit meiner Oma erst im jungen Erwachsenenalter erhalten und das nicht aus Quellen, die diese Verantwortung eigentlich getragen hatten. Auch heute gibt es noch nicht genügend qualifizierte Stimmen, die sich engagieren und informieren, die Inhalte (barriere-)frei zur Verfügung stellen, um sexuelle Selbstbestimmung (weiterhin) zu ermöglichen. Aber es gibt sie und es werden mehr. Ich möchte eine dieser Stimmen sein.