Aus einer geteilten Umzugsfantasie wurde eine ungeteilte Büchse der Pandora: Ich wollte Veränderung und das auch zu einem Mietpreis, der meinem Partner Roman viel zu hoch war. Also stand nach ziemlich genau sechs Jahren geteiltem Alltag in einem gemeinsamen Zuhause ein Zustand an, der unsere Partnerschaft nach langer Zeit in ein ganz neues Gewand kleiden sollte. Nämlich in das Distanz-Kleid einer Fernbeziehung.
Wie funktioniert Liebe auf große Entfernung? Wie läuft eine räumliche Trennung ohne romantische Trennung ab? Und bedeutet weit voneinander entfernt zu sein auch, sich unweigerlich emotional voneinander zu entfernen? Sich am Ende zu entfremden? Hilft unsere offene Beziehungsform womöglich dabei, einen engen Austausch und Kontakt sowie unsere allgemeine Zufriedenheit aufrecht zu erhalten? Oder öffnen wir schlicht Tür und Tor für andere Lieben – nur jetzt ohne den „sicheren Heimathafen“ eines gemeinsamen Wohnraums?
Um ganz ehrlich zu sein, muss ich zugeben, dass ich mir keine dieser Fragen anfänglich oder während meines Entschlusses auszuziehen gestellt habe. Genauso wenig wie die Frage, die mir gefühlt alle Leute sofort stellten, denen ich meine Umzugspläne unterbreitete: „Das ist ja 500 km weit weg! Wie oft werdet ihr euch denn dann sehen?“ Ich hatte keine Antwort darauf außer der Wahrheit: „Darüber haben wir gar nicht gesprochen.“
Mir war nur bewusst, ich wollte nicht umziehen, um dann jedes zweite Wochenende in der alten Heimat zu verbringen. Mein Bauchgefühl war weder der Meinung, dass ich das wollen würde, noch dass unsere Beziehung das zum Überleben bräuchte. Generell sträubte sich in mir alles dagegen, mich überhaupt auf eine gewisse Regelmäßigkeit der Heimatbesuche im Vorhinein festzulegen. Ich wollte ja weg sein. Und schließlich besagte der Plan ja auch, nur für eine begrenzte Zeit…
Please, hold the line
Also ging ich, ohne dass wir abgesprochen hätten wie häufig wir uns sehen oder auf welchen Wegen wir Kontakt halten würden. Uns war bewusst, dass unsere gegenseitige Verbindung stark auf Anwesenheit und physischem Kontakt zueinander aufgebaut war. Das Vertrauen darauf, im gegenseitigen (Beziehungs-)Leben alles Wichtige und Bewegende allein dadurch mitzubekommen, Tag um Tag nebeneinander wachzuwerden. Es ist so einfach up to date zu bleiben, wenn allein ein geteilter Kalender und Haustürgeräusche beinahe jegliche Infos geben, die es braucht.
Aber nach meiner Entscheidung hatten wir auf einmal nur noch ein „mal sehen, wie es läuft“ und die Idee, täglich ein Foto auszutauschen. Von was auch immer uns interessant erschien.
Die Zeit zeigte dann, was mich heute hoffnungsvoll stimmt. Ich kann darauf vertrauen, dass wir uns ausreichend für das Leben des*der jeweils anderen interessieren, um ganz von selbst neue Wege zu finden, auf denen wir in Verbindung bleiben können. Aber irgendwie schwant mir, dass das nicht so selbstverständlich bleiben muss.
Andererseits fühlte ich bisher auch zu keinem Zeitpunkt eine tatsächliche Distanz zwischen Roman und mir. Ich fühlte mich ihm verbunden, anstatt außerhalb seines Alltagslebens stehend. Vielleicht weil es zum Zeitpunkt meines Auszugs keine gemeinsamen Projekte gab, die jetzt brach liegen. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob mich dieser Gedanke erleichtert oder traurig macht.
Welche Distanz macht eine Fernbeziehung?
Keinen Grund zur Trauer wiederum stellte für mich das durch die Decke schießende Vertrauen in unsere Partnerschaft dar. Eine derartige Ruhe und Verbindlichkeit, eine derartige Basis und Stabilität zu spüren trotz räumlicher Distanz im Moment und zeitlicher Distanz über die Dauern meiner Abwesenheit, ließ mich ein enormes Maß an Dankbarkeit entwickeln. Ich erwische mich sogar dabei, daran zu zweifeln, dass wir uns überhaupt in einer klassischen Fernbeziehung befinden.
Wo sind das charakteristische schmerzliche Vermissen und die Einsamkeit? Wo die Reue darüber, bestimmte Situationen nicht gemeinsam erleben zu können? Ich will nicht sagen, dass da gar kein Vermissen ist. Aber es ist so anders als erwartet. In Liebesfilmen zählen Paare immer die Tage und rennen sich auf Bahnsteigen in die Arme, obwohl jedes Kind weiß, dass man sein Gepäckstück nicht unbeaufsichtigt stehen lassen soll. So fühle ich mich aber gar nicht.
Was ist spüre, ist Vorfreude auf unser Wiedersehen. Eine gewisse Verherrlichung dieses Menschen unterstützt durch das Anhören schmachtiger Playlists, okay. Aber ich bekam bisher nicht das Gefühl, erst nach langen Durststrecken endlich wieder eine Nähe zu Roman zu spüren, die mir vorher gefehlt hätte.
Daher frage ich mich: Ab wann bedeutet denn „weit weg sein“ überhaupt Distanz? Wenn es sich doch gar nicht nach einem getrennt und distanziert leben anfühlt, befinden wir uns dann vielleicht immer noch in einer „Nahbeziehung“ (Was ist das Gegenteil von „Fernbeziehung“ anyway? Eine Beziehung ist es doch in beiden Fällen.)?
Waren die letzten sechs Jahre vielleicht so intensiv, dass die mittlerweile sieben Monate räumlicher Trennung noch gar nicht besonders deutlich zu Buche schlagen? Machen wir gerade eine Art wohltuenden Urlaub voneinander? Oder haben wir schon zuvor nur noch so wenig miteinander unternommen, dass es kaum mehr einen Unterschied macht, die Partnerschaft remote zu leben?
Ich muss zugeben, dass mir diese letzte mögliche Antwort einen Stich versetzt. Auch wenn ich spüre, dass sie nicht die ganze Wahrheit sein kann, macht mir der Gedanke Angst, dass wir uns auch in der „Nahbeziehung“ schon voneinander entfernen haben könnten. Denn ja, was macht Liebende schließlich schneller zu reinen Mitbewohner*innen, als der öde Alltag, die Abwesenheit von neuen gemeinsamen Erlebnissen und das Kennenlernen jeder einzelnen kleinen Eigenheit des*der anderen…
Will sagen, nicht in Fernbeziehung zu leben, schützt auch nicht vor dem Liebestod. In diesem Sinne genieße ich es sogar, mich jetzt höchstens selbst mit meinen Routinen zu ermüden. Wobei es dann auch allein an mir liegt, wieder frischen Wind in meinen Alltag zu bringen.
Aus den Augen, in den Sinn
Kommunikation ist ja auch so ein Faktor. Nicht monogam gelebten Beziehungen wird ja nachgesagt, fast ausschließlich über gute Kommunikationsstrategien am Laufen gehalten zu werden. Das war bei Roman und mir bisher nur teilweise der Fall. Über viele Dinge (bspw. Dates oder Sex mit anderen Menschen) haben wir uns nach einiger Zeit längst nicht mehr so umfänglich ausgetauscht wie zum Beginn unserer offenen Beziehung.
Die Distanz hat das verändert. Telefonate, die mit einem harmlosen „Was machst du?“ beginnen, wachsen sich zu mehrstündigem akustischem Beisammensein aus. Es gibt richtig was zu erzählen und zwar oft. Es besteht anteilnehmendes Interesse an den Geschichten, die wir aktuell ohneeinander erleben und erfassen, um sie dann miteinander zu teilen. Das ist eine weitere Grundlage, auf der gar keine wirkliche Distanz zu ihm entstehen kann. Vielleicht habe ich schlicht eine Gleichbedeutung von „Distanz“ und „Distanzierung“ erwartet. Eine Formel wie „Entfernung gleich Entfremdung“, die so gar keinen Bestand hat.
Eine stabile Beziehung und reife Liebe, ob zwischen Partner*innen, Familienmitgliedern oder Freund*innen, definiert sich wenig überraschend wohl einfach nicht über „aus den Augen, aus dem Sinn.“ Ganz im Gegenteil kommt es mir vor, als würde ich Roman nun viel häufiger und aktiver mitdenken, wenn ich nicht in seiner Nähe bin und etwas erlebe, das ich ihm erzählen will. Oder wenn ich meine nächste Zukunft plane und darüber reflektiere, welche Bestandteile mein Leben nicht aus Gewohnheit, sondern aus bewusster Entscheidung ausmachen sollen.
Die rosa Brille steht uns
Während ich diese Gedanken aufschreibe, reißt der Fahrtwind wieder schmale Wasseradern über das Zugfenster. Ein weit entferntes kleines Flussdelta neben dem nächsten lässt sich in hunderte Kilometer weite Distanz übersetzen, die sich gerade wieder zwischen ihn und mich schiebt. Je weiter ich fahre, desto deutlicher spüre ich wieder die niedliche romantische Verklärung seiner Person in mein Bewusstsein zurückkehren.
Ich beobachte die aufziehende rosarote Rückblick-Brille, der ich so leicht verfalle, wie sie meine Erinnerungen an das vergangene Wochenende einfärbt. Und ich denke mir, dass das ein sehr praktischer Effekt für Fernbeziehungen ist (im Gegensatz zu Exbeziehungen). Denn wenn der Alltag sogar Menschen, die man einmal angehimmelt hat, grauer erscheinen lassen kann, als sie eigentlich sind. Dann wird ein cuter Rosastich, der auch noch dabei hilft aus gehaltenem Kontakt eine gestärkte Verbindung werden zu lassen, der Beziehung vielleicht erst gerecht.
Es müssen nicht immer die brennende Leidenschaft und der heißeste Wiedersehenssex sein, wenn man nach langen Wochen wieder durch die alte Tür kommt. Es kann auch einfach das tief beruhigende Gefühl sein, in einem Zuhause und bei einem Zuhause-Menschen anzukommen, die so vertraut sind, als wäre da gar keine große Distanz gewesen.