Friedhöfe werden meiner Meinung nach als Aufenthaltsorte unterschätzt. Ruhe in Frieden muss man nicht allein den Toten überlassen.
Das Bild einer in aller Ruhe lesenden Frau auf einer Bank im Halbschatten. Das graue Haar hinter ihren Ohren steht im Kontrast zu ihrem jungen, leichten Sommerkleid. So sitzt sie da inmitten von sattem Grün, Sonnenflecken und Grabsteinen. Ich wünschte ich könnte die Szene malen.
Auf alten Friedhöfen kann man der offenbar vergangenen Tradition begegnen, einen kurzen Satz zu den Verstorbenen auf den Grabstein zu setzen. In diesen Worten liegen meistens viel Liebe und Vermissen. Aber auch Vertrauen, Gelassenheit und Akzeptanz im Umgang mit dem Tod. Das Wissen um seine universelle Unausweichlichkeit und die unerschütterliche Hoffnung auf einen Sinn, der im Wiedersehen gipfelt.
Was mir an diesen Orten auch begegnet, sind Verwahrlosung und das Vergessen, das dahintersteckt. Einsamkeit, weil die Zeit alle Grabpflegeoptionen aussterben ließ. Aber eins finde ich auf Friedhöfen nie: Angst vor dem Tod. Und dadurch auch nicht dieses krampfhafte Stillschweigen über ihn. Stattdessen spricht dort jeder Stein vom Tod. Jedes Grab zeugt von Geburt, Tod und der ungesagten Lücke zwischen diesen beiden Zeilen, die unser Leben ist. Das so erfrischend in den Hintergrund tritt an diesem Ort. Das Leben in der Differenz von zwei Daten.
Unaufdringlich, aber omnipräsent sprechen Friedhöfe unverschämt vom Tod wie buchstäblich nichts anderes auf dieser Welt. Die Leute haben hohe Hecken gepflanzt oder sogar Mauern um sie errichtet. Sie zeugen davon, wie sehr wir den Tod und seine Konsequenzen ins Private zwingen wollen, um die allgegenwärtige Anwesenheit vom Lebensende besser ausblenden zu können.
Ich empfinde Friedhöfe nicht mehr als besonders melancholische Orte. Vermissen lässt es sich eh überall, dieses Gefühl wird man ja nicht an der Friedhofsmauer wieder los. Friedhöfe bieten Erholung durch Einordnung des eigenen Stresses unter größere Lebensprioritäten. Wie wichtig und überwältigend fühlt sich die Deadline noch an, wenn man sie vor einem Mausoleum reflektiert? Wenn man sie neben die großen Fragen stellt und einen Schritt zurück macht.
Hinter all diesen Namen oder anonymen Gräbern liegen Deadlines, Termine, Verpflichtungen und Jobs der Vergangenheit. Die meisten dieser Menschen hinter den Gräbern haben ihre Pflichten und ToDos sicher auch nicht auf die leichte Schulter genommen. Aber im Vergleich zum permanenten Ende und der Erinnerung, in der sie jetzt manifestiert sind… Was denkst du, was der Druck da letztlich für eine Rolle spielt?
Wir können freier leben, fühlen, träumen als wir meistens sehen. Alles, was an uns zerrt und nagt, ist meistens kein Naturgesetz. „Mach langsamer, lass die Zeit rinnen, aber nicht zerrinnen“, sagen mir Friedhöfe. Sie laden ein, sich Zeit zu nehmen. Auf Friedhöfen gibt es nämlich genug davon. Daten, Dauern, Jahreszeiten, alles sichtbar und in ausreichender Menge vorhanden. Nein, Friedhöfe machen keine Angst vor dem Sterben. Friedhöfe sind der einzige Ort, an dem das Sterben schon hinter uns liegt. Ein Ort, an dem deutlich werden kann, was uns vor und nach dem Sterben wichtig ist. Geh mal bei Sonnenschein über einen großen, vielleicht alten Stadtfriedhof spazieren. Es ist echt schön.