Am ersten Mal gefällt mir vor allem die Bewusstheit, mit der ich es erleben kann. Das Wissen darum, dass es zu eben dieser Situation noch keine vorherige gab. Keine Routine oder Erfahrung, stattdessen ist alles neu und die fehlende Bekanntheit der Situation löst – als Kehrseite der positiven Aufregung – komfortzonenverschiebende Unsicherheit aus.
Das Adrenalin im Anfang wäre nicht vertreten, hätte ich schon eine erfolgreich erprobte Strategie parat, wie ich mit einer neuen Situation umgehen könnte. Und dieses Adrenalin-Empfinden, das hat Suchtpotenzial. Für mich bedeutet das, dass ich einen umsichtigen Umgang mit ersten Malen finden möchte. Schließlich ist das Tolle in ihrem bewussten Erleben auch, dass man versuchen kann, das Adrenalin zu dosieren, um es mehr zu genießen.
Ich achte darauf, nicht alles auf einmal geschehen zu lassen. Dass das erste Mal nicht einfach ungewürdigt an mir vorbeizieht. So manches Timing liegt aber nicht in meiner Hand. Daher kommt es, dass ich alles möglichst bewusst wahrnehmen möchte. Sogar die unangenehmen Emotionen, die ein erstes Mal mit sich bringen kann. Letztlich kann ich ein unangenehmes erstes Mal notfalls im Nachhinein zu einem gleichzeitig letzten Mal umdeuten. Ich kann entscheiden, was ich mit meiner neuen Erfahrung anstellen will.
Erste Male sind besonders, weil es nicht erst die Rückschau benötigt, damit man sich ihrer bewusst wird. Ich kann definitiv wissen, was ich zum ersten Mal erlebe. Ich kann Vorfreude auf ein erstes Mal empfinden, während ich das Ereignis auf mich zuwachsen sehen. Ein letztes Mal hingegen erkenne ich im Vorhinein meistens nicht. Zu häufig verstehe ich letzte Treffen oder letzte Worte erst später als solche. Darauf folgt Nostalgie als Spiegelwesen meiner Vorfreude und lähmt mich.
Ein „hätte ich doch“, ein Denken und Erinnern im Konjunktiv, fühlt sich so viel machtloser an als ein „ich werde…“. Selbst wenn ich vorher weiß, dass ich nicht wissen kann, wie es tatsächlich sein wird. Erste Male markieren eine Transition, eine Veränderung des Zustands „never have I ever“ zu „I did it.“ Das lässt selbst passive Erfahrungen ermächtigend klingen.
Kein Druck beim ersten Mal
Das erste Mal gebiert Wirklichkeit und das ohne sie zu werten. Aus Vorahnung wird Erlebnis, aus Vorfreude oder angstvoller Erwartung wird Umstand. Wie wir die Situation dann bewerten, hat nichts mit dem ersten Mal an sich zu tun. Aber ich bekomme den Eindruck, dass vor allem in Liebesdingen erste Male regelrecht glorifiziert werden. Man denke nur an die Bilder, die die Phrase „der erste Kuss“ heraufbeschwören kann.
Ich kann diese Tendenz zur Überhöhung nachvollziehen. Nicht nur, weil potentielle Anfänge wie unausgesprochene, aber faszinierende Versprechen wirken. Auch weil wir Angelegenheiten der Romantik heute häufig als Wertemaßstab an uns selbst setzen. Ob wir „kissable“ sind, definieren wir darüber, wie viele Leute uns küssen wollen. Ob wir liebenswert sind, bemessen wir daran, wie viele Menschen uns Likes und Liebe schenken oder sie uns zumindest nicht absprechen. Ob wir „fuckable“ sind… scheint nicht in realen Zahlen messbar zu sein, denn der Bodycount wird hierzu nicht als Messgröße akzeptiert. Ich schweife ab.
Aber Selbstwert durch und in unserem romantischen Dasein zu erhalten, ist eine aufwendige Aufgabe, die den meisten von uns gut bekannt ist. Ich habe verinnerlicht: Ein aufregendes Liebesleben, das sei etwas, das hoch gewertet wird, ja, das sogar andere neidisch auf mich machen darf. Und für das Label „aufregend“ muss man sich schon richtig Mühe geben. Das erfordert Kreativität und Einsatz.
Außer, ja, außer man macht etwas zum ersten Mal. Denn dann ist allein die Tatsache, dass man es macht, aufregend und spannend. Selbst wenn es gar nicht schön gewesen ist, ist dieser Kritikpunkt nur zweitrangig. Hauptsache offen für Neues!
Erste Male fühlen sich vielleicht auch deshalb oft so besonders gut für mich an, weil ich das Gefühl habe, auf mir laste viel weniger Leistungsdruck. Es kann ja nur spannend werden, ist ja schließlich neu das Ganze. Und mehr noch: Falls es nicht perfekt klappt, kein Wunder… Ist ja beim ersten Mal noch keine Meisterin vom Himmel gefallen. Etwas zum ersten Mal zu tun, kann also auch Welpenschutz bedeuten. Mangelnde Übung bietet guten Grund für Misserfolge und so ist es leichter, Verständnis zu haben. Ich finde das irgendwie tröstlich.
Insofern es einen weiteren Versuch geben darf, um die Fehler, die beim ersten Mal gemacht wurden, auszubügeln. Ein missglücktes erstes Mal kann nämlich auch bedeuten, dass es keine zweite Chance geben wird.
Ich habe im Jahr 2022 viele einschneidende erste Male erlebt, die vor allem auf mein Beziehungsleben große positive, aber auch negative Auswirkungen hatten. Aus meiner Nesting-Partnerschaft wurde eine Fernbeziehung. Aus nicht monogamem Leben zu zweit wurde Polyamorie, die aktuell vier Menschen direkt beeinflusst. Mehr hierzu und was ich in 2022 noch zum ersten Mal erlebt und daraus gelernt habe, kannst du dir u. a. in dieser Folge Eine Stunde Liebe (ca. ab Minute 8:00) anhören.
Auch in 2023 stehen mit Sicherheit Erfahrungen und Erlebnisse an, die mir in ihrer Form bisher so nicht untergekommen sind. Und auch wenn ich mir momentan lieber eine Pause mit tiefem Durchatmen wünsche, ich bin mir sicher, ich bin ready.